Vier Monate nach der Diagnose ALS, sollte die Diagnose in Ulm überprüft werden. Also ging ich kurz vor Weihnachten 2016 nach Ulm ins Klinikum (RKU). Das RKU ist eine der kompetentesten Adressen in Sachen ALS in Deutschland.
Bei Schneetreiben fuhr ich nach Ulm. Autofahren war zu diesem Zeitpunkt noch kein Problem. Hier verbrachte ich vier Tage. Chaos pur, gefühlt unprofessionell und Patient Bär genervt. Die EMG war nun bereits an mehreren Gliedmaßen auffällig. Bei einer Nadel-EMG werden an vielen Stellen Elektroden direkt in den Muskel gestochen und die elektrische Muskelaktivität wird anhand von Aktionsströmen gemessen. Mitunter im Kiefer und der Zunge – eher etwas für Genießer. Summa summarum: Diagnose ALS. Frohes Fest!
Ab dann ging es spürbar bergab. Februar 2017 Pflegegrad zwei, April normaler Rollstuhl, im Juli elektrischer Rollstuhl, Stimmverlust, Sprachcomputer, Pflegebett, Pflegedienst und Hausumbau. Unfassbar, ein Jahr zuvor war ich noch sorgenfrei im Skiurlaub. Mittlerweile bin ich fast vollständig gelähmt, werde nachts und bei Bedarf künstlich beatmet und ich benötige rund um die Uhr Intensivpflege.
Meine Muskeln zucken am ganzen Körper kontinuierlich. Ich habe ständig Krämpfe und Spastiken, kommuniziere nur noch mit den Augen und mein Handy, den Sprachcomputer, das Licht im Haus, den Fernseher und viele weitere Dinge steuere ich ausschließlich mit den Augen. Meine Stimme ist nun eine Computerstimme und heißt Klaus. Beachtlich was die Technik hergibt. Trotz dieser Unpässlichkeiten kann ich sagen: Mir geht es gut. Außer Muskeln fehlt mir nix.
Weitere Details meines körperlichen Rapidverfalls erspare ich Ihnen an dieser Stelle, aber es zeigt wie schmal der Grat zwischen Luxus (gesund) und Harfespielen ist. Und wer denkt ihn betrifft das nicht, ich drücke die Daumen, vor vier Jahren entzog sich dies auch vollkommen meiner Vorstellung.
Wir kämpfen natürlich wie die Tiere dagegen an. Der Name ist Programm und Kapitulation ist keine Option, war ich noch nie der Typ für. Lediglich einen Waffenstillstand und die Beibehaltung des Status quo wären durchaus eine Option. Wie sehr die ALS mein Leben und das meiner Umgebung verändert, konnte ich mir bei der Diagnosestellung vor vier Jahren noch nicht vorstellen, vielleicht auch gut so. Der Vollständigkeit halber muss ich aber auch sagen, dass ich mir nicht vorstellen konnte, trotz ALS und schwersten Einschränkungen ein weitestgehend glückliches Leben zu führen.
Aber bei allem Optimismus, muss man auch realistisch sehen, dass das Wasser bis zum Hals steht. Nur vom fröhlichen Pfeifen hört es nicht auf zu steigen und schon gar nicht wird die Hose trocken. Es bedarf des zuverlässigen Schöpfens, oder des Ziehens des Stöpsels oder wenn es dufte läuft, dreht jemand am Haupthahn das Wasser ab. Aber nichts von alledem ist in Aussicht. ALSo liebe Kapelle, spielet „Näher, mein Gott, zu Dir“, wir saufen ab… Einen Gin bitte und nach mir die Ginflut.
#als #madebyeyes
© Christian Bär 2020-10-04