Es gibt keinen Schlaf mehr, nur verschiedene Stufen des Wach-Seins. Mein Sohn kommt im Mai auf die Welt, das war’s mit Pennerei. Schon okay. So starre ich an einem Abend im August zombiemäßig auf den Bildschirm meines Laptops. Bin der Letzte im Büro. Und es ist heiß, beschissen heiß, denn wir befinden uns im Endzeit-Sommer 2018. Mit aller Kraft kratze ich einen Rest an brauchbarem Hirn zusammen und meine Liste für heute ist endlich durch. Da rappelt mein Handy. El Chefe. Um diese Uhrzeit nichts Gutes. Kannst du einen Nachruf schreiben, meint er. Klar, antworte ich. Wer denn? Chandak.
Oh, nein. Fettie is’ hin! Chandak aka Fettie ist ein Kragenbär, so dick, dass seine Wampe beim dappen auf’m Boden schleift. Dabei sind diese Tiere eher sportlich unterwegs, klettern Bäume hoch, bauen sich Nester und pennen drin. Der arme Fettie hingegen hat das nie geschafft, musste über 30 Jahre im Zoo leben, bevor er zu uns ins Bärenschutzzentrum kam. Cooler Typ gewesen, voller Lebensfreude trotz hohen Alters.
Jedenfalls, hier kommt das Problem: von den Zoofreund_Innen gab es mega Shitstorm, weil wir Fettie übernommen hatten. Einen alten Baum verpflanzt man nicht und solch ein Gelaber. Aber ihr hättet mal sehen sollen, wie er da gelebt hat. Betonboden, fett gefüttert, keine Abwechslung und ständig Leute, die ihn angaffen. In einer Doppelrettungsaktion holen wir gleich zwei uralte Kragenbären. Eine davon hat bereits nach ein paar Monaten den Leiermann getroffen, gab heftiges Gerede in den sozialen Medien, jetzt, knapp 5 Wochen später, hat’s den zweiten auch dahingerafft. Scheiße, wie erkläre ich das nur der Öffentlichkeit und vor allem den ganzen Zoofanatikern, die nur darauf warten uns Tierschützer zu zerreißen?
Wenn nichts mehr hilft, dann schreib einfach die Wahrheit. Und das mache ich. Ich schreibe also keinen wirklichen Nachruf, ich teile nicht meine Trauer im Namen des Teams mit, sondern ich sage, wie es ist, dass wir seit Jahren auf die schreckliche Haltung und das massive Übergewicht des armen Tieres hinweisen aber es stets ignoriert wurde, dass man ihn Tag für Tag mit ungesundem Kram wie Nudelsalat voll stopfte, dass die Zoofreaks an seinem Leid Schuld sind, weil sie es lustig fanden, einen fetten Bären dabei zu beobachten, wie er seinen Fettwanst über den Beton schleift. Ein Leben lang haben sie ihn erniedrigt und es als Kultur oder gar Artenschutz verkauft aber in Wahrheit diente das arme Tier nur der Belustigung und als es auf seinen Lebensabend hin ging haben sie ihn bei uns entsorgt, um Arzt und Beseitigung zu sparen. Tatsächlich lebte Chandak in unserem Wald nochmal so richtig auf, lernte das Leben lieben, verbrachte Stunden damit, gemütlich durch einen Fleck Natur zu wandern. Es zeigt, dass sich auch – oder gerade bei alten Tieren jeder Tag lohnt.
300 Kommentare – alle positiv, kein Shitstorm, selbst diejenigen, die sich zuvor beschwerten haben sich nach dem Text bei uns bedankt. Mein bisher größter Erfolg – von dem niemand weiß…
© Christopher Schmidt 2022-12-29