Bei Einbruch der Dunkelheit

Sandra C. Müller

by Sandra C. Müller

Story

Mindestens zweimal nächtlich trieb es Kim aus dem Bett, hinaus in den kalten Dunkelschlund des Flurs. Sie erwachte wie üblich um halb drei und versuchte, das fiese Drücken ihrer Blase zu ignorieren. Doch Kims schlaftrunkener Körper tanzte gegen ihre besten Bemühungen aus der Zimmertür davon. Die Wohnung hatte sich seit acht Jahren in ihrer Einrichtung nicht gewandelt, so ersparte sich Kim den spitzen Schmerz künstlichen Lichts nach langer Dunkelheit und tastete durch den Flur. Kim ging die übliche Anzahl an Schritten voran bis zur Badezimmertür und fischte in der Dunkelheit nach der Türklinke ins Leere. Verwundert, fast vorwurfsvoll, blinzelte sie in die Dunkelheit, denn auch nach zehn weiteren Schritten verlor sich ihre Hand abermals im Nichts.
Sie musste gefangen sein in einem Traum endloser Wege, einem typischen Toilettentraum, dessen Horror darin bestand, ein geeignetes Örtchen zu finden und erleichtert aufzuwachen. Doch zu ihrem Entsetzen spürte Kim den kalten Atem der Nachtluft an ihren nackten Füßen und die Aknehaut ihrer Tapete. Nur ihre Sicht mochte sich nicht an die Finsternis gewöhnen.
Endlich streiften Kims Finger die glatte Oberfläche einer Tür. Das Knarren ihrer Angeln ließ Kims Herz vor Schreck beinah zerbersten. Nun hellwach und klopfenden Herzens, spürte Kims Körper den Terror bisher unerhörter Urängste, die ihr in den Flur vorausgeeilt waren. Sie watete blind im zähen Teer, der sich über ihren Kopf ergossen hatte. Das Dunkel verlor seine Schwärze, seine Dichte und wuchs nach und nach ins Nichts.
Kim versuchte gegen die Dunkelheit anzublinzeln. Die Arme zu beiden Seiten von sich gestreckt, wagte Kim, einer beängstigenden Vermutung Gehör zu schenken: nicht ihre Augen, nein, der Flur musste falsch sein, war sie doch eben zwanzig Schritte vorangestolpert, ohne auf Widerstand zu stoßen. Der Flur ihrer Wohnung aber maß keine fünf Meter. Normalerweise konnte sich Kim ihrer müden Bewegungen kaum besinnen, so routiniert erreichte sie ihr Ziel. Verwunderung und Verwirrung verloren sich nun in Furcht, die schwer auf Kims Blase hockte und mit baumelnden Beinen an ihr letztes Glas Wasser schlug.
Mit weit aufgerissenen Augen drehte sich Kim nun wie eine defekte Rundumleuchte – hilflos in dem Raum, den sie einst dominierte. Sie erschrak vor dem Klang ihrer erleichterten Stimme, als ihre Fingerspitzen endlich zurück auf die Tapete fanden. Nun diente die Wandverkleidung als Leitstreifen. Schnellen Atems und schreckgeschärfter Sinne pirschte und pirschte sie, doch die Suche nach einem Lichtschalter blieb erfolglos.
Mit wachsender Verzweiflung lehnte sie sich gegen die Wand und atmete eisige Luft. Kim bot der Dunkelheit ihren Arm als ein letztes Friedensangebot, sie zu ergreifen, sie zu lenken, doch dann sprach ihre Hand zum Hirn »Ich spüre fremde Haut«, woraufhin Kims Beine nachgaben und sie schreiend zu Boden sank. Mit dem Rücken zur Raufaser, schlug und trat Kim gegen die Dunkelheit an; kreischend, betend, bitte, Nachbarn, hört mich, Licht!


© Sandra C. Müller 2024-04-27

Genres
Novels & Stories