Beim Grab meiner Schwester – Teil II

Leonie Winkler

by Leonie Winkler

Story
St. Petersburg im September

Einen Tag bevor ich mit meiner Schwester nach Zürich abreisen sollte, brachte er das Buch mit. Wir saßen auf einer kalten Parkbank. Die Sonne stand schräg am Himmel. Gold war die Farbe des Spätsommers.
„Darf ich dir vorlesen?“, fragte er vorsichtig. Mir hatte zum letzten Mal meine Großmutter vor vielen, vielen Jahren etwas vorgelesen. Ich legte meinen Kopf an seine Brust und er umschloss mich mit seinem Arm. Dann begann er in sonorer Stimme mit der Geschichte. Die Art, wie er laß, gab ihr eine eigene Bedeutung. Eine tiefere. Vor meinem inneren Auge tauchten Charaktere und Orte auf, die ohne ihn völlig anders ausgesehen hätten. Ich verliebte mich in die Geschichte, die er laß, weil er sie laß. Als er viele Seiten später das Buch beiseite legte, sah er mir tief in die Augen. In diesem Moment wusste ich es.
„Erzähl mir etwas“, brachte sie hervor.
Meiner Schwester ging es am nächsten Tag sehr schlecht. Wir konnten den Flug nicht mehr antreten. Es war zu spät. Sie wurde in ein heruntergekommenes Krankenhaus gebracht. Die Besuchszeiten verbrachte ich neben ihrem Krankenbett.
„Eines Tages werden wir Kinder haben. Drei. Zwei Jungen und ein Mädchen. Das Mädchen wird mein Liebling. Ich werde sie wahnsinnig verwöhnen. Sie wird auch dein Liebling sein. In den Ferien wird sie dich besuchen kommen und ihr werdet zusammen backen – so wie wir früher“, ich versank in einer Zukunft, von der ich selbst wusste, dass sie nie eintreffen wird. Ich konnte von nichts anderem sprechen, als von ihm. Er war meine neue Realität geworden. Meine Schwester sprach hingegen kaum noch. Ihr einst so feines Gesicht war eingefallen und müde. Jeder Satz, den sie sagte, war eine Qual und dadurch umso gehaltvoller: „Was weißt du… wirklich über ihn?“
„Hör auf damit“, hörte ich ihn wie aus dem Nichts sagen. Er schaute von dem Buch auf. Die Abende gehörten ihm allein. Eine Flucht in die Fiktion.
„Womit soll ich aufhören?“, hatte ich gefragt.
„Das weißt du genau. Du hast keine Schuld an der Lage deiner Schwester. Die Dinge sind, wie sie sind.“
Seine Antwort überraschte mich und als er mich ansah, verlor ich mich unwiderruflich in seinen Augen. Ich habe nie wieder herausgefunden. Mit jedem Wort, das er laß, mit jeder Berührung, die er gab. Er war das rettende Floß auf stürmischer See. So glaubte ich zumindest damals. Doch selbst heute überkommt mich noch ein wohliges Stechen in der Magengegend, wenn ich sein Parfum in der Bahn rieche. Dann frage ich mich oft, ob es ihn wirklich gegeben hat, oder ob er nur in meiner Einbildung existierte.
Als er die letzte Seite beendet hatte, schloss er das Buch. Die Geschichte hallte noch lange in mir nach. Ich hatte noch nicht einmal das Ende begriffen. Er gab mir einen Kuss auf die Stirn und murmelte: „Danke für alles.“
Das Buch nahm er nicht mit.

Ich ertappe Dich
Beim Diebstahl meiner Gedanken.
Weil sie sich wie Efeu dicht um diese Zeit ranken.
Du und ich, das war so kurz und bedeutungslos.
In meinem Kopf ist es immer noch riesengroß. 

Ob Du noch manchmal an mich denkst,
Oder ausschließlich meine Gedanken lenkst?
Das wage ich mich kaum zu fragen,
Wo wir beide wieder in neuen Betten lagen. 

© Leonie Winkler 2023-08-20

Genres
Novels & Stories
Moods
Dunkel, Mysteriös, Traurig, Angespannt
Hashtags