27. April 2050, 18.15 Uhr
Ben wurde beim Betreten von Attilas Wohnung immer nervöser, ohne genau zu wissen, warum. Während er Attila ins Bad begleitete und darüber nachdachte, wovor oder für wen er sich eigentlich schämte, sagte Attila:
„Mein Junge, ich weiß nicht, wieso du nervös bist, ich bin doch der, der sich gleich vor dir ausziehen muss.“
Der Witz über das Bevorstehende beruhigte Ben nicht wirklich, trotzdem rang er sich ein Lächeln ab. Er half Attila in den Stuhl neben der großen Badewanne. Vorsichtig zog Ben Attila sein T-Shirt über den Kopf. Noch im Sitzen löste Attila den Gürtel seiner Hose und streckte dann Ben seine Arme entgegen, damit er ihm helfen konnte wieder aufzustehen.
„Ich muss schon ganz nackt sein, bevor ich in die Wanne kann“, sagte Attila als er begann, sich die Hose unter die Taille zu schieben. // „Greif doch bitte mit an!“ // Zaghaft ergriff Ben Attilas Hose und zog daran. // „Mein Junge!“, wurde Attila jetzt etwas ungeduldig. „Zieh mir doch einfach die Hose bis zu den Knöcheln!“ // Ben half der befehlende Ton dabei, aufzuhören, über die Situation nachzudenken und einfach zu tun, was Attila sagte. // „Und jetzt noch die Unterhose. Zieh sie einfach runter!.“ // Ben tat, was ihm befohlen wurde, aber blickte dabei vorsichtshalber zur Seite. // „Mir ist schon klar, dass das hier für dich nicht sehr angenehm ist, aber ich möchte einfach nur ein Bad nach einem langen Tag nehmen.“ // „Bitte entschuldige!“, sagte Ben. // „Du musst dich nicht entschuldigen. Hilf mir einfach in die Wanne!“
Ben öffnete die Türe zur Badewanne, die gleichzeitig eine Dusche war. In der Badewanne gab es einen ausklappbaren Stuhl, auf den sich Attila jetzt setzte. Während Ben das Wasser einließ, senkte sich der Stuhl, den Attila bediente, immer tiefer in die Wanne. // „Ab hier brauche ich deine Hilfe nicht mehr. Zumindest für einige Zeit. Bitte bring mir das Buch vom Tisch in der Wohnküche. Ich ruf dich dann, wenn ich fertig bin.“ // Ben holte das Buch und warf einen kurzen Blick darauf. Erich Fromm – „Die Kunst des Liebens“ stand auf dem Einband. Er schlug das Buch an der Stelle des Lesezeichens auf und las einen hervorgehobenen Satz:
„Das Bewusstsein der menschlichen Getrenntheit ohne die Wiedervereinigung durch die Liebe ist die Quelle der Scham. Und es ist gleichzeitig die Quelle von Schuldgefühl und Angst.“
Nachdem er Attila das Buch gebracht hatte, machte er sich, nach Attilas Vorschlag, Tee und setzte sich an den Tisch. Er spürte wie seine Hand, die die Teetasse umschloss, immer wärmer wurde und dachte über den Satz aus dem Buch nach. Er wusste nicht so recht was mit „Bewusstsein der menschlichen Getrenntheit“ gemeint sein sollte. Aus dem Badezimmer hörte er jetzt ein Lied. Immer wieder sang jemand von „Grandma‘s Hands“ und kurz bevor Attila ihn zu sich rief, konnte er noch die Zeile „Grandma’s hands picked me up each time I fell“ hören. Ben betrat das Badezimmer und sagte:
„Na gut, alter Mann! Sag mir, wie ich dir helfen kann!“
© Bernd Schmidl 2022-06-18