Nun war es der Tod, der etwas Zeit benötigte, um über die Aussage seines Freundes nachzudenken. Er begegnete der Aussage mit einer Frage: “Bereust du etwas, das du getan oder nicht getan hast?”
Das Leben war sichtlich irritiert von dieser Frage, denn es verstand nicht, was der Tod damit bezwecken wollte. Wollte er von seiner Aussage ablenken, wollte er ausweichen oder war die Frage auf seine Aussage bezogen? “Wie meinst Du das?”, fragte das Leben den Tod. “Du willst mir meine Schuld am Leid der Welt nehmen, indem Du sagst, dass Du genauso Schuld daran hattest, weil Du ebenfalls nichts gesagt hast. Und du gehst davon aus, dass erst durch diese Entscheidung eine Sinnhaftigkeit in unserer Aufgabe steckt. Deshalb will ich wissen, ob du das oder etwas anderes bereust, was du getan oder unterlassen hast.”
Das Leben verstand allmählich, worauf der Tod hinaus wollte und zögerte mit seiner Antwort: “Also gut. Anfangs haderte ich mit meiner Entscheidung, nichts zu sagen. Bis ich eben begriff, dass die Entscheidung, die Welt selbst entscheiden zu lassen, erst zum Sinn meiner Aufgabe geführt hat. Und ich bereue es, in diesem Moment Deines Zwiespaltes nicht für Dich dagewesen zu sein. Wir haben nie darüber gesprochen, welche Auswirkung diese Entscheidung für dich mit sich führte. Und das tut mir leid. Ehrlich leid mein Freund.”
Die Worte seines Freundes überraschten den Tod, er hatte nicht damit gerechnet, solch eine ehrliche Antwort zu erhalten und wusste nicht, wie er damit umgehen sollte.
“Ja, du hast mich allein mit meinem Zweifel gelassen und mir durch deinen unterlassenen geäußerten Zweifel das Gefühl gegeben, allein daran schuld zu sein. Doch Schuld allein bringt uns heute nicht weiter, denn ich hätte es ebenfalls von dir einfordern können. Ich hätte dich darauf ansprechen können, dich um deine Hilfe bitten können. Statt es mir leicht zu machen und die gesamte Schuld auf mich zu nehmen, hätte ich dich darum bitten können, sie gemeinsam zu schultern. Das ist das, was ich bereue, nicht getan zu haben. Ich habe es versäumt, meinen Freund um Hilfe zu bitten und es so selbst geschafft, einen Keil zwischen uns zu treiben, der gar nicht vorhanden war.”
© Katharina Müller 2025-06-19