Beschneidung

Melly Schaffenrath

by Melly Schaffenrath

Story

Obwohl ich immer noch keine Ahnung hatte, welche Tabletten ich von der Oberschwester bekommen hatte, waren die morgendlichen Heulkrämpfe verschwunden. Da ich sie schon geschluckt hatte, war es wohl auch zu spät, sich Sorgen darüber zu machen.

Nach dem üppigen Frühstück, das meine Gastmutter täglich servierte, machte ich mich auf den Weg zur Arbeit. Ich verabschiedete mich von meiner Gastmutter, ihrem Sohn, ihrer Mutter, ihrer Schwester, ihrer Cousine und deren Kinder und verließ das Gebäude. Als Weiße in einem afrikanischen Dorf kam man keinen Meter weit, ohne angesprochen zu werden. Mit weißer Haut und blauen Augen fiel man hier eben auf. Inkognito funktionierte nicht, da nützte auch Sonnenbrille und Hut nichts. Es verging keine Minute, in der ich nicht ein fröhliches „Obroni! Bra, Bra!“, hörte. Obroni war in Ghana die gängige Bezeichnung von Menschen mit weißer Haut. Die korrekte Übersetzung wäre in etwa: „Menschen, die von jenseits des Ozeans kommen“. Mein Arbeitsweg betrug nur etwa fünf Minuten, ich brauchte aber meist dreimal so lange. Jeden Einzelnen musste ich begrüßen, ich erhielt Einladungen, ich musste viele Fragen über mich und Österreich beantworten, musste Abklatschen und gelegentlich, wenn ich an zu lauter Hiplifemusik tanzenden Menschen vorbeikam, musste ich auch mal mittanzen. Die Menschen hier waren so offen und herzlich. Sie freuten sich so sehr über den Besuch der Weißen!

Als ich in der Clinic ankam und an den Hühnern im Wartebereich vorbei zu meinem Platz ging, hörte ich plötzlich ein Baby schreien. Das hysterische Gebrüll kam aus dem kleinen, mit einem Vorhang verdeckten Kämmerchen. Es klang nicht wie ein Baby, das vor Hunger schrie, sondern laut und schrill, so als hätte es starke Schmerzen. Ich fragte Nancy, eine der Schwestern, die hier arbeitete, was da hinter dem Vorhang los sei. „Das ist nur eine Beschneidung. Das ist gleich vorbei.“, meinte sie zu mir. Entsetzt blickte ich sie an. Wie bitte? Beschneidung? „Beschneidung?“, fragte ich mit entsetztem Tonfall, weil mir sofort Waris Dirie in den Sinn kam. Nancy lachte über meine Reaktion und erklärte mir, dass Buben im Säuglingsalter gleich beschnitten werden, aus hygienischen Gründen. Dass die Salbe, die als lokale Betäubung benutzt wurde, nicht immer gleich gut half, warf sie mit einem gleichgültigen Schulterzucken hinterher. Obwohl ich nun schon zwei Wochen hier im Dorf war, fehlte mir wohl noch die nötige Abgebrühtheit, um das so wie Nancy mit einem Schulterzucken abzutun.

Als Mittags der Patientenandrang verebbte, rief mich die Oberschwester in ihr Büro. Ich solle morgen mit Nancy in eines der umliegenden Dörfer fahren. Ich solle ihr helfen, die Bewohner und vor allem die Kinder dort zu impfen. Das wäre wichtig für diejenigen, die nicht zur Untersuchung und Impfung in die Clinic kommen könnten. Das klang nach einer tollen Aktion, ich freute mich darauf!

© Melly Schaffenrath 2022-08-07

Hashtags