Für die meisten Menschen war die Kindheit die schönste Zeit im Leben. Man freut sich, wenn die Freunde fragen, ob man mit auf den Spielplatz kommen will. Man sieht die Welt bunter und fröhlicher und lacht den ganzen Tag lang. Die Eltern passen immer auf, und man wird bedingungslos geliebt. Besonders schön sind die Familienabende, wenn man beisammensitzt, Brettspiele spielt oder einen Film schaut. Diese Zeiten sind unvergesslich, und noch viele Jahre später schwärmt man von den schönen Erinnerungen. Ich jedoch hatte keine solche Bilderbuchkindheit. Ausgerechnet ich durfte sie nicht erleben. Ich verachte jeden, der so leben durfte. Ich hasse abgrundtief jeden, der von seiner ach so tollen Kindheit brabbelt. Warum konnte ich nicht so eine Kindheit haben? Der Spaß, den ich hatte – und immer noch habe -, wurde von den anderen gehasst. Kommen wir zur Sache. Ich bin Lina, siebzehn Jahre alt und hasse meine Eltern. Ausgerechnet ich musste in diese Familie geboren werden und in diesem grauenhaften Kaff leben. Die Großstadt wäre doch viel schöner. Dort gibt es mehr Geschäfte, die öffentlichen Verkehrsmittel kommen regelmäßig, und es sind mehr Menschen unterwegs. Zurück zu meinen Eltern und diesem Kaff. Jetzt denken natürlich viele, dass ich von meinen Eltern misshandelt wurde. Doch ich muss gestehen, dass mich meine Eltern weder psychisch noch physisch verletzt haben. Im Gegenteil – sie haben immer versucht, meine Geburtstage unvergesslich zu machen. Und genau deswegen hasse ich sie. Sie haben mich vor meinen Freunden total blamiert. Hätte ich nur gewusst, warum meine Eltern so peinlich waren, hätte ich sie niemals allein gelassen. Nun muss ich dir ehrlich gestehen, dass mein Dorf – oder Kaff, wie ich es nenne – schon sehr seltsam ist. Rundherum gibt es viele Felder, Wiesen und Wälder. Das an sich ist nicht ungewöhnlich. Doch es sind diese Monster, die das Leben hier unerträglich machen. Heute habe ich tatsächlich erfahren, dass ich an meinem achtzehnten Geburtstag sterben werde. Um zu überleben, müsste ich mir einen jungen Menschen anschaffen. Nur Menschen unter achtzehn sind vor diesen Monstern geschützt. Diese Kreaturen sind blitzschnell und greifen sofort an, sobald ein Erwachsener allein ist. Egal wo, egal wann. Wir Kinder müssen rund um die Uhr auf unsere Eltern aufpassen. Das ist so nervig. Ich hatte doch etwas unternehmen können. Stattdessen sitze ich hier mit meinem Geburtstagshütchen am Tisch und warte. Es ist zwar noch nicht Mitternacht, aber ich habe mir das Hütchen schon mal aufgesetzt. Schließlich bekomme ich hohen Besuch – Besuch, der mich im schönsten Moment meines Lebens nicht allein lassen würde. Ich hatte sonst niemanden. Alle anderen hatten keinen Bock mehr auf diesen Terror und haben sich umgebracht. Du hättest die Blicke der Monster sehen müssen – sie sahen aus, als hätten sie zum ersten Mal einen Baum gesehen. Ich habe mich über diese Idioten kaputt gelacht. Das Leben ist doch so schön! Wieso sollte man sich umbringen, wenn man so ein Luxusleben mit Security führen kann? Selbst meine Eltern haben mitgemacht. Und jetzt hingen diese elendigen Lappen im Schuppen. Ich lache, während ich die achtzehn Kerzen anzünde. 23:58 Uhr – Ich gehe zum Fenster und öffne es. 23:59 Uhr – Ich betrachte das letzte Familienfoto. 00:00 Uhr – Die Monster stürmen herein, setzen sich hin, und gemeinsam essen wir meine Eltern. Ihren Geschmack hasse ich abgrundtief.
© Melissa Manlik 2025-06-19