Bewunderung für Weltmeister Manfred Kehrer

Annemarie Baumgarten

by Annemarie Baumgarten

Story

Ich lernte am 31.5.84 vorzeitig aus, fast alle anderen aus meiner Klasse waren noch Lehrlinge. Im Betrieb gratulierte man mir am 1.6., als ich mit der Arbeit begann. Mein Chef sagte, sie kämen nicht aufgrund des Internationalen Kindertages, es handle sich um die bestandene Facharbeiterprüfung. Feier für die HO-Jungfacharbeiter im Sommer.

Als Herr Kehrer in der Berufsschule in einem Schauschreiben Proben seines Könnens gab, durfte ich noch einmal nach Zwickau fahren. Ihm wurde von Frau W. ein ihm unbekannter Text mit 500 Silben/Minuten diktiert. Sie erzählte uns, sie habe wochenlang dafür geübt. Ihre Vorbereitungen begannen, als ich noch Lehrling war. Es ist sehr schwierig, so schnell und dennoch verständlich zu sprechen. Herr Kehrer folgte der Ansage mühelos, erntete dafür große Anerkennung bei Lehrlingen wie Lehrern und zog bewundernde Blicke auf sich. Beeindruckend, wie er aus seinem Leben erzählte und den Beruf eines Volkskammer-Verhandlungsstenografen darstellte. Geboren wurde er 1936. Als Schüler der Lehrstätte seiner Mutter in Aue beherrschte er bereits als 10-Jähriger Steno und Maschinenschreiben und wurde 15-jährig mit 200 Silben/Minute Landesmeister. Er hat dann Slawistik studiert und sprach mehrere Sprachen. Einige hatte er sich in Vorbereitung internationaler Wettkämpfe angeeignet, an denen er sich seit 1961 beteiligte. Seit 1991 versah er im Sächsischen Landtag seinen Dienst als Verhandlungsstenograf, nahm an Beratungen von Bundestag und -rat teil. Nach der Wende wurden für die Landtage der fünf neuen Länder händeringend Stenografen gesucht. Man muss neben hohen Leistungen auf unseren Fachgebieten ein Studium vorweisen können, damit man nicht nur schreibt, sondern versteht, was man zu Papier bringt.

Kaffeekochen bewahrheitete sich vorläufig nicht für mich. Gelegentlich musste ich die Sekretärin des Direktors vertreten und auch Kaffee in der Kantine holen. Die Pausenversorgung war ein Stockwerk über uns. Wir saßen in einem ehemaligen Textilbetrieb. Vom Treppenhaus gingen schwere Stahltüren in die einzelnen Etagen. Ich kam die Treppe herunter mit einem Kännchen bzw. zwei Tassen auf dem Tablett, stellte es auf eine der letzten Stufen, öffnete die Tür, lehnte mich dagegen und kam gerade so vor dem Zuschlagen der Tür hindurch, nachdem ich das Tablett wieder an mich genommen hatte. Verschütten durfte man auch nichts. Um den Fahrstuhl benutzen zu dürfen, war eine spezielle Genehmigung erforderlich, die nur wenige Kollegen hatten. Häufig besuchte uns der Leiter Arbeitsökonomie. Er schob die Brille auf die Stirn. Bewegte er sich speziell, rutschte die Sehhilfe auf die Nase! Jedes Mal ein Lacher. Noch mehr lachten wir, obwohl es unfair war, als einem Kollegen beim Reden der obere Teil des künstlichen Gebisses auf den unteren Teil klappte. Der Hauptbuchhalter, der gerade bei uns war, fand kaum noch zu sich. So etwas hatte er noch nie erlebt.

© Annemarie Baumgarten 2024-04-15

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