Blaue Pille

Julia Hofmacher

by Julia Hofmacher

Story

Die Krankenpflegerin platzierte eine blaue Tablette auf meiner ausgestreckten Handfläche und wartete ungeduldig, bis ich sie herunterschluckte. Dankend wendete ich mich ab und ging in Richtung Zimmer. Meine Schritte wurden immer schneller, als sich die Pille unter meiner Zunge aufzulösen begann. Kaum war ich außer Sichtweite, pickte ich die Tablette aus meinem Mund und verbarg sie in meiner Hand. Möglichst leise öffnete ich die Tür zum Patientenzimmer und schlich sofort ins Bad, um die anderen nicht aufzuwecken. Nachdem ich abgeschlossen hatte, starrte ich auf die kleine, blaue Tablette in meiner Handfläche, deren Inhaltsstoffe laut meiner Ärztin meine Wahrnehmung „normalisieren“ sollten.
Normalisieren.
Was ist schon normal?
Ich fühle mich weder krank noch verrückt. Meinem rational denkenden Ich war durchaus bewusst, dass meine Gedanken als psychotisch eingestuft wurden und dass ich nicht grundlos in der Psychiatrie war. Doch die psychotischen Gedanken ließen mich an meiner Vernunft zweifeln. Hinzu kam die Angst, die Medikamente könnten Wirkung zeigen und somit die Vermutung der ÄrztInnen auf eine psychische Störung bestätigen.

Immer wieder griff ich nach der Tablette, führte sie an meine Lippen heran, konnte mich nicht überwinden und legte sie dann zurück auf den Waschbeckenrand. Vor meinem inneren Auge lief gerade die Wiederholung der erlebten Situation. Ich musterte das Gesicht der Krankenpflegerin, während sie mir die Pille in die Hand legte, auf der Suche nach Hinweisen. Ein falscher Blick, ein kleines Schmunzeln oder ein ungewöhnlich betontes Wort machten mich schon misstrauisch. Das Karussell psychotischer Gedanken hatte sich unaufhaltsam in Bewegung gesetzt. Es war kaum möglich, ihm nicht meine Aufmerksamkeit zu schenken.

»Nimm sie! Du bist hier, um gesund zu werden.«
»Aber was, wenn sie mich manipulieren?«
»Denk auf Spanisch, dann verstehen sie dich nicht.«
»Mia, niemand kann deine Gedanken lesen.«
»Ich war schonmal hier, oder?«
»Beruhig dich. Du hast das nicht zuvor erlebt.«
»Sie hat gelacht. Ich habs gesehen.«
»Alle sind Schauspieler«
»Sie spielen mit mir.«
»Nein. Das ist deine verzerrte Wahrnehmung. Sie hat einfach nur normal gelächelt.«
»Nimm jetzt bitte die Tablette.«

Zwei Stunden lang kämpften diverse Gedanken darum, die Entscheidungsgewalt zu erlangen. Es fühlte sich an, als wäre ich ein externer Zuhörer, der von einer Idee überzeugt werden müsste. Mehrmals war ich kurz davor, beiden Seiten zu glauben. Mittlerweile war ich an dieses Spiel gewöhnt, doch es machte mir trotzdem noch Angst, mich wie eine Fremde in meinem eigenen Kopf zu fühlen.
Meine Gedanken machten mir Angst.
Ich selbst machte mir Angst.
Für eine Sekunde hörte ich auf zu denken, drückte mich ruckartig vom Badezimmerboden, auf dem ich mittlerweile lag, hoch, legte mir die Tablette auf die Zunge und schluckte.

© Julia Hofmacher 2025-08-31

Genres
Novels & Stories