Blind

Irene Werren

by Irene Werren

Story
Blindenmuseum Zollikofen 2025



Da lag sie auf dem Tisch, nicht zu überSehen: eine Einladung vom Schweizerischen Blinden – und Sehbehindertenverband zu einem spannenden und überSchaubaren Programm mit der Schweizer Schrifstellerin Christine Brand. Sie wird bei einem Podiumsgespräch aus ihrem Krimi “Blind” vorlesen und im Gespräch sein mit Luciano B., der seit Geburt blind ist.
Anschließend werden wir das Blindenmuseum besuchen und ein Apéro riche wird den Nachmittag kulinarisch und Sichtlich gemütlich abrunden.
Mit einer lieben Freundin sitze ich in den dichtbesetzten Reihen und folge dem Gespräch. Christine Brand ist in einer Bestattungsfamilie in Burgdorf aufgewachsen. Sie gibt unumwunden zu, dass sie von jeher eine morbide Ader hätte für das Kriminelle. Der Leichenwagen wurde im Sommer umfunktioniert zu einem Campervan, mit dem die Familie in den Süden reiste. Wahrscheinlich wird im Sommer doch weniger gestorben, sagt sie mit einem Augenzwinkern.

Sie arbeitete als Journalistin und Gerichtsreporterin, beschrieb anSchaulich unaufgelöste Verbrechen und veröffentlichte viele makabre Kurzgeschichten. Sie schreibt am liebsten auf der Insel Sansibar, wo sie die meiste Zeit des Jahres verbringt.
Mit “Blind” schaffte sie den Durchbruch. Die Hauptperson Nathaniel ist blind und meistert den Alltag mit seinem Blindenhund und verschiedenen Hilfsmittel, unter anderem der App”be my eyes”. Da können Personen angerufen werden, die per Videocall dem blinden Menschen sagen, ob sie z. B. farblich stimmig angezogen seien. Bei einem solchen Anruf bekommt Nathaniel mit, dass am anderen Ende ein Verbrechen geschieht. Ein spannender Wettlauf gegen die Zeit beginnt.

Luciano B. ist von Geburt an blind und Farben bedeuten ihm nichts. Er weiß, der Himmel ist blau, die Wiese grün. Er kann Dunkel und Hell unterscheiden. In der Blindenschule hier in Zollikofen lernte er schon früh, mit dem Blindenstock selbständig unterwegs zu sein.
Er setzt sich in verschiedenen Projekten dafür ein, dass KI weiterentwickelt wird, um sie in wichtigen Apps nutzen zu können, z. B. zum Lesen der Speisekarte in einem Restaurant, die ihn durch seine Fragen zu seinem Hauptgang lotst, den er gerne bestellen würde.

Im Blindenmuseum sitzen wir eine Viertelstunde im stockdunklen Raum. Wir hören einer jungen, blinden Frau zu, wie sie frühstückt und sich durch den brausenden Verkehr auf den Weg zur Arbeit macht. Plötzlich ist ein Hindernis im Weg, eine Baustelle. Eine Person hilft ihr über die Hürde. Vor dem Fußgängerstreifen schrillt der Alarm, nun kann sie unbesorgt über die Straße gehen. Ich sitze da, meine Ohren sind hoffnungslos überfordert, die andauernde Dunkelheit macht mich ungeduldig, ich verspüre Fluchtgedanken.
Beim Hinausgehen halten wir uns aneinander fest, reden ununterbrochen miteinander. Es entsteht eine Nähe zu Menschen, die mir sonst fremd geblieben wären. Selten bin ich so erleichtert, aus dem Dunkel in den sonnigen Frühlingsnachmittag zu treten.
Blind sein ist eine Herkulesaufgabe und nur für Mutige. Ich bin es nicht.


© Irene Werren 2025-05-17

Genres
Self-help & Life support
Moods
Dunkel, Informativ