Blücherplatz

Julia Jänisch

by Julia Jänisch

Story

Als ich zur Grundschule ging, wohnten wir in der Gneisenaustraße. Vom Wohnzimmer aus konnte man den Fischladen auf der gegenüberliegenden Straßenseite sehen. Samstags standen die Leute dort Schlange. Künnemann und Sohn ist eine Institution in Kiel – seit über hundert Jahren kaufen und verkaufen Generationen dort Fisch. Und den besten Krabbensalat der Stadt, wenn nicht sogar auf der ganzen Welt. Die Mischung aus Mayonnaise und Krabben ist perfekt, nicht zu sauer, nicht zu flüssig. Beim Bäcker an der nächsten Straßenecke gibt es ein helles Brötchen dazu. Wenn ich hineinbeiße, weiß auch meine Zunge: ich bin zuhause.

Zur Schule ging ich immer allein, den Haustürschlüssel an einem Band um den Hals baumelnd. Kinder wie ich wurden damals Schlüsselkinder genannt und wir waren in der Unterzahl. Denn bei den meisten wartete natürlich mittags die Mama mit dem Essen auf dem Tisch. Nicht so bei mir. Meine Mutter war alleinerziehend und lebte schon Anfang der 2000er das Bild einer modernen Frau. Nicht weil sie es wollte – sie musste Geld verdienen, damit wir leben konnten. Alle Kindermädchen, die sie für mich einstellen wollte, vergraulte ich. Genauso wie meinen Klavierlehrer. Ich mochte es, allein zu sein. Und so lernte ich mit sieben Jahren, wie ich mir Essen auf dem Herd warm machte.

Der Schulweg kam mir unfassbar lang vor – dabei waren es nur eineinhalb Straßenzüge bis zur Hardenbergschule. Der mehrere hundert Meter lange Backsteinbau säumt eine ganze Seite der gleichnamigen Straße. Dahinter befanden sich die Sporthalle, der Schulhof mit Spielplatz, eine orangene Tartanbahn und der Schulgarten im Innenhof. Diese riesigen Innenhöfe sind typisch für Kiel und im gesamten Stadtgebiet zu finden. Die Schultage waren schön, denn: Ich durfte spielen und lernen. Bald wusste ich, dass sich Schleswig-Holstein in die geografischen Zonen Marsch, Geest und östliches Hügelland teilt und Kiel im 16. Jahrhundert aus der Hanse ausgeschlossen wurde, weil die Stadt Piraten unterstützt hatte.

Jeden Tag ging ich mindestens zweimal am Blücherplatz vorbei. Der Platz ist gesäumt von wunderschönen Altbauten aus der Gründerzeit. Mit Stuck an den vier Meter hohen Decken und alten Holzdielen. Auf dem Platz ist, damals wie heute, zweimal die Woche Markt und immer ein großer Spielplatz mit Rutsche, Schaukel und Klettergerüst. Ich liebte diesen Spielplatz und verbrachte oft ganze Nachmittage mit den Kindern aus dem Viertel in unserer eigenen Welt bis wir um spätestens 18 Uhr nach Hause mussten. Oder, wenn es dunkel wurde.

Wenn ich heute auf dem Blücherplatz stehe, sehe ich immer noch Kinder spielen und zur Schule gehen. Ich sehe die Verkäufer auf dem Markt und frage mich, wie vielen von ihnen schon vor zwanzig Jahren dort standen. Und der Krabbensalat schmeckt genauso gut wie immer.

© Julia Jänisch 2022-11-22

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