Brief an meinen Vater

Renate Pesl

by Renate Pesl

Story

Seit du tot bist,vergeht fast kein Tag, an dem ich nicht an dich denke oder mit dir spreche, ich suche und wünsche mir deine Nähe,ich umgebe mich mit deinen Dingen des täglichen Gebrauchs, ein Bleistift, ein Lineal,die kleine Schere, die vom Alter schon dunkelgrau ist. In meiner Geldbörse habe ich deinen letzten Einkaufszettel, ja selbst deine abgegriffene, kleine Ledertasche,die du bei unseren gemeinsamen Einkäufen immer mitgenommen hast, habe ich aufgehoben.

Wie kommt es, daß du mir jetzt näher bist, als du mir je im Leben warst,daß ich jetzt die Zärtlichkeit für dich empfinde, die du dir villeicht gewünscht hättest? Haben wir nun einander vergeben, das du nicht der Vater für mich warst und ich nicht die Tochter, wie es hätte sein sollen?

Kann ich erst jetzt deine Einsamkeit nachempfinden, die mir als gerechte Strafe erschien für alles, was du Mama ,als sie noch lebte,vorenthalten, an ihr versäumt hast? Waren in meiner Selbstgerechtigkeit, mit der ich dich verurteilte, nicht auch meine eigenen Versäumnisse enthalten, mit allen- “warum hab ich nicht, und das hätte ich doch tun können und nicht getan”-? Weil man die Fehler beim Anderen immer sofort erkennt, für die Eigenen aber stets plausible Entschuldigungen findet?

Vor nicht allzu langer Zeit auf dem Weg von Wien nach Hause,es war Sonntag, ich fuhr allein,es dämmerte bereits und in einigen Häusern gingen die Lichter an, sah ich dich vor mir,- wie durch ein Fenster,- in deiner heißgeliebten, gestopften grauen Weste und der Trainingshose. Du gehst in die Küche und rufst den Kater, stellst ihm sein Futter hin, machst dir eine Schale Tee, der Fernseher läuft, und du legst ein paar Holzscheite in den Zusatzkamin, weil dich trotz Zentralheizung immer ein wenig friert.- Und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als daß es Wirklichkeit wäre, du tatsächlich in deinem Haus wärst und ich zu dir fahren könnte, wenn ich wollte, an einen Ort der Geborgenheit, wo ich noch immer Kind sein könnte, bei meinem Vater!

Ich bin zornig auf dich, weil du nicht mehr da bist, und ich hasse mich dafür, daß ich dich eigentlich nie überraschend besuchte, mir nie Gedanken darüber machte, wie einsam du warst und wie sehr es dich gefreut hätte,außerhalb der vereinbarten Tage Besuch von einem deiner Kinder zu bekommen.

Je älter ich werde,um so näher bist du mir,kann ich Vieles erst jetzt verstehen,wo auch ich langsam dahin komme, nicht mehr gebraucht zu werden, Manches nicht mehr leisten zu können. Die Nutzlosigkeit,von der du so oft sprachst,das Gefühl, nicht mehr für Voll genommen zu werden, Ängste vor ganz alltäglichen Widrigkeiten, Ungeschick bei all den technischen Neuerungen, all das sind tägliche, kleine Verletzungen, die mit zunehmendem Alter immer mehr werden. Bei dir kam mit Sicherheit noch der Autoritätsverlust dazu, Patriarch,der du warst. Ach, Papa!

Ich spüre dich immer noch bei unserer letzten Umarmung, wir telefonierten noch einmal, zwei Tage später warst du tot. Schlaf gut,Papa!

© Renate Pesl 2020-05-08