Carpe diem.

Heidemarie Brezina

by Heidemarie Brezina

Story
Burgenland 1961 – 2024

Carpe diem ist das kürzeste lateinische Sprichwort, das ihr in Erinnerung geblieben ist aus ihrem Lateinunterricht, 1963. Carpe diem, nütze den Tag. Sie musste den Tag nicht nützen, es lagen ja noch viele vor ihr. Keine in der Klasse dachte daran, dass die Lebenstage abnehmen würden, auch wenn es ja nicht anders möglich war. Es war die Zeit der Veränderung in ihrem Leben. Nach bestandener Aufnahmeprüfung konnte sie ins Gymnasium gehen. An die täglichen Busfahrten in die 8 km entfernte Kleinstadt und zurück gewöhnte sie sich. Das Warten auf den Bus war langweilig, es gab kein Handy, um sich mit Spielen die Zeit zu vertreiben. Für Carpe diem gab es nicht viele Möglichkeiten am Land. Einmal pro Woche Klavierunterricht, am Sonntag einen Spaziergang mit der Freundin im Schlosspark, danach ins Kaffeehaus. Carpe diem fordert ja auf, den Tag zu genießen und das nicht auf den nächsten Tag zu verschieben. Was sollte sie zwischen dem elften und achtzehnten Lebensjahr genießen? Es gab wenig Abwechslung in dem Dorf und sie war ohnehin mit der “Schule” beschäftigt. Man hatte die Natur vor der Haustür und die Ruhe, aber genossen hat sie das nicht. Jetzt in Pension ist das ganz anders, sie genießt ihre selbstgewählten Aktivitäten, Wanderungen, Spaziergänge, soviel Lebenszeit hat sie nicht mehr. Aber damals, vor fast 60 Jahren war man ewig, war ein Monat lang, eine Woche lang, ein Jahr kaum zu fassen. Als in der Schule die Verpflichtungen mehr wurden, hatte das “Nutze den Tag” eine praktische, organisatorische Bedeutung. Wie teilt sie sich den Lernstoff ein, wie nützt sie die Nachmittage. Das war nicht im Sinn von “genießen”, sondern, wie füllt man den Tag mit der Bewältigung der Aufgaben. Nun im Alter füllt sie den Tag auch aus, aber anders, sie plant auch schöne, interessante Dinge ein und überfüllt die Tage nicht mit unnötigen Erledigungen. Carpe diem hat eine andere Bedeutung gewonnen. Einen Tag nichts planen, die Zeit verstreichen zu lassen, musste sie auch erst lernen. Was Carpe diem heißt, ist individuell verschieden, ein Maximum an Tun oder ein Maximum an Entspannung kann es sein. In Ihrer Schulzeit war Carpe diem kein Motto, sie hatten keinen Lehrer, der über die Literatur einen Zugang zu Carpe diem herstellte, wie in dem Film “Der Club der Toten Dichter” Der Film war 1989 erschienen, aber er führte ihr nachträglich vor Augen, dass in der Schule auf Wünsche und Träume nicht eingegangen wurde, es hat sie niemand bestärkt, sich von Konventionen frei zu machen. Sie haben funktioniert bis zur Matura. Als sie dann für “reif”erklärt wurden, konnten sie das Carpe diem allmählich begreifen. Heute ist es für sie auch eine Grußformel, die sie im WhatsApp mit einer Schulfreundin austauscht, um sich was Schönes zu wünschen, ein “Carpe diem” und zwei Sektgläser als Emoji, das macht den Gruß heiter. Die Jugendsprache kennt Sprüche aus dem Englischen wie “YOLO” für You online live once, du lebst nur einmal. Das Printmagazin Carpe diem stellt vier Bereiche, wie Ernährung, Bewegung, Erholung und Bewusstsein ins Zentrum des Genießens, gesund genießen, spüren, loslassen und sich vertrauen, ist darunter empfohlen. Carpe diem ist nicht mit erhobenem Zeigefinger zu verstehen, sondern als Anleitung und Inspiration für ein gutes Leben. Man sollte sich bewusst sein, dass “Die Zeit vergeht, sei dir der Sterblichkeit bewusst”. Tempus fugit. Memento Mori, denn es gibt kein Zurück.

© Heidemarie Brezina 2024-02-24

Genres
Novels & Stories, Biographies
Moods
Emotional, Inspirierend, Reflektierend
Hashtags