Codex Gigas

Tim Arnold

by Tim Arnold

Story

Die Nacht brach an und das Benediktinerkloster wurde Gebäude für Gebäude, Turm für Turm und Mönch für Mönch in einen Mantel pechschwarzer, hoffnungsloser Dunkelheit getaucht. Denn in jener Nacht sollten die rabenschwarz-gekleideten Mönche einen aus ihren eigenen Reihen zum Tode verurteilen. Eingemauert hinter Ziegelsteinen sollte er Verhungern und Qualen unterliegen, die ihn für seine Vergehen an der Gemeinschaft der Mönche – für seine Vergehen an Gott – büsen liesen. Die Taten dieser unglücklichen Seele sind hier nicht von Bedeutung. Lediglich die Bestrafung ist es. Lediglich wie er überlebte.

Während die Ziegel seiner steinernen Zelle in ihre Plätze gesetzt wurden, begann er um sein Leben zu flehen. Er ging auf die Knie und flehte um Gnade, flehte um Vergebung für seine Schwäche. Die Mönche machten ihm ein Angebot: „Schreibe uns ein Buch, das alles Wissen, jeden Ritus, jede Legende und jedes Wunder dieser Welt in sich verewigt. Das größte von Menschen geschaffene Werk, in einer Nacht, und du bist frei”. Ohne zu zögern, nahm er ihr Angebot an. Sie gaben ihm Stift und Pergament, so viel er benötigte, und er begann zu schreiben.

Als die Kirchenglocke zwölf schlug, während seiner Abschrift des Buchs Genesis, holte ihn die Realität ein und legte sich wie eine Decke aus Melancholie und Verzweiflung über ihn. Seine Hände schmerzten und langsam aber sicher, Wort für Wort, schienen ihm die Wände seiner letzten Lebenspassage erdrückender als je zuvor. Ihm blieb die Luft weg, seine spindeldürren Arme begannen zu zittern. Ihm wurde klar: Er würde hier verhungern.

Und so tat er was nur Wenige vor ihm gewagt hatten, um sein Leben zu retten. Mit akribischer Genauigkeit und vor Verzweiflung zittrigen Händen zeichnete er den Beschwörungskreis auf den stockfinstren Fußboden. Er beschwor die Hierarchie der sieben Prinzen der Hölle herauf. Von Asmodeus, der Wollust, über Sathanas, dem Zorn, bis hin zu Lucifer, König der Hölle und Repräsentant des Hochmuts. Als das Ritual endlich vollbracht war, begannen Boden und Wandziegel des Gefängnisses zu zittern und zu beben, bis schließlich Stille einkehrte. In der Dunkelheit konnte der Mönch nur schwer sehen, doch er machte eine große, dunkle Gestalt, die sich inmitten des Beschwörungskreises befand, aus. Eine Gestalt mit gewaltigen Hörnern, sowie langen, scharfen Krallen an Händen und Füßen, stand ihm gegenüber. Zwei Zungen, die über ein Eigenleben zu verfügen schienen, hingen aus ihrem Mund. Lucifer höchstpersönlich, in all seiner Pracht und Abscheulichkeit, befand sich vor seinen Augen.

Im Austausch für seine Seele handelte der Mönch einen Pakt mit dem König der Hölle aus. Ein Pakt, der den Morgenstern dazu verpflichtete seinem Beschwörer das Unmögliche möglich zu machen. Lucifer selbst erschuf den Codex Gigas in jener Nacht. Der Mönch vergaß nie, welche Macht er für die Rettung seines Lebens entfesselt hatte. Er entging seiner Bestrafung… doch zu welchem Preis?

© Tim Arnold 2022-08-04

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