Costa Rica

Vanesa Be

by Vanesa Be

Story

Nach zufĂ€lligen Begegnungen, die hĂ€ngenbleiben, oder GesprĂ€chen mit interessanten Leuten, die inspirieren, denke ich mir oft, dass ich genau diese Person vermutlich nie wieder sehen werde. Wie seltsam dieser Gedanke doch ist, befremdlich – wie, nie wieder? – und zugleich so selbstverstĂ€ndlich. Die Welt ist nun mal nicht so klein, wie dieser Spruch immer behauptet. Die Wege trennen und verflĂŒchtigen sich, und die Wahrscheinlichkeit, sich am selben oder einem anderen Ort wiederzusehen, ist nun einmal recht gering. Wenn es aber doch klappt, hat es meistens etwas zu bedeuten. Und ich bin ein großer Fan von diesen bedeutsamen ZufĂ€llen. Als der Zug ankommt und ich mich auf die Suche nach einem Sitzplatz begebe, sitzt sie bereits alleine in einem Abteil, das fĂŒr sechs Leute ausgerichtet ist, und strahlt mir entgegen. Ich strahle unverzĂŒglich zurĂŒck. “Wir kennen uns ja bereits! Möchten Sie sich zu mir setzen?”, fragt sie mich, und obwohl ich nach der Schule meistens froh darĂŒber bin, auf der Fahrt nachhause Ruhe und Zeit fĂŒr mich zu haben, zögere ich keine Sekunde und mache es mir im Abteil gegenĂŒber der Dame gemĂŒtlich. Auf dem kleinen Klapptisch, der sich vor ihr befindet, steht eine Thermoskanne mit heißem Tee, ein rotes Brillenetui und ein ReisefĂŒhrer: Costa Rica. Ich staune leise und muss sogleich lĂ€cheln. Dieses wunderbare Land habe ich letzten Sommer bereist und lebe noch immer von den Erinnerungen. Sie sieht mich ĂŒber ihre Brille mit dem dicken, ockerfarbenen Rahmen an und lĂ€chelt. “Woher kommen Sie?”, fragt sie. Ich weiß nicht genau, was sie meint – meine Herkunft oder meinen letzten Standort vor Antritt der Zugfahrt. Ich entscheide mich fĂŒr die weniger komplizierte Variante. “Von der Arbeit, ich unterrichte an der höheren Schule im Ort”, erwidere ich. “Und Sie?”, frage ich zurĂŒck. “Ich war bei meiner Tochter und habe meine Enkel besucht. Leider nur kurz, sie mĂŒssen schon weiter. Verpflichtungen, Sie wissen ja, wie das ist. Tenniskurs, Lesezirkel, Geburtstagsfeier einer Volksschulfreundin. Alles Mögliche. Aber ich bin froh darĂŒber, in der NĂ€he zu wohnen und sie so oft sehen zu können”, erzĂ€hlt sie und lĂ€sst ihren Blick aus dem Fenster in die vorbeifliegende Landschaft schweifen. Ich folge ihm und frage mich, ob es angebracht ist, meiner Neugier nachzugehen. Verstohlen werfe ich noch einen Blick auf den ReisefĂŒhrer und blicke zu ihr. “Darf ich Sie fragen, planen Sie eine Reise nach Costa Rica?”, erkundige ich mich. Sie lacht, und es wirkt so, als wĂŒrde es sie ĂŒberaus freuen, dass ich nachfrage. “Ja, tatsĂ€chlich. NĂ€chsten Monat geht es los”, antwortet sie und ich glaube, einen gewissen Stolz in ihrer Stimme zu erkennen. Ich möchte es zwar nicht laut aussprechen, finde ihr Vorhaben jedoch unglaublich bemerkenswert. Ihr Stil, ihre dynamischen Bewegungen und die verschmitzten GesichtszĂŒge lassen sie jĂŒnger wirken, als sie ist. Ich schĂ€tze sie aber auf 80 Jahre, und eine Reise in diesem Alter mag wohl etwas ungewöhnlich, vielleicht sogar leichtsinnig erscheinen. “Wie schön! Es wird Ihnen bestimmt gefallen, Costa Rica ist ein unglaublich schönes Land. Reisen Sie mit jemandem?”, frage ich nach. Sie schĂŒttelt sanft den Kopf. “Nein, nein. Wilhelm wĂ€re bestimmt gerne dabei, wir wollten immer gemeinsam nach Zentralamerika. Leider fehlte uns lange der Mut, um den Schritt zu wagen, weswegen wir die Reise unter VorwĂ€nden stĂ€ndig hinausschoben, bis – naja, bis leider die Möglichkeit, das gemeinsam zu erleben, nicht mehr bestand.”

© Vanesa Be 2023-08-31

Genres
Novels & Stories, Travel