by Elena Döhner
Der Duft von Sandelholz hängt schwer in der Luft. Dünne Rauchfäden kräuseln sich träge zur Decke, verschwinden in den Schatten der alten Holzbalken. Yuwon und Narae knien mit geschlossenen Augen auf den matten Kissen vor der Opfergabe, die Finger auf den Oberschenkeln ruhend. Das Wachs der Kerzen schmilzt langsam, tropft in stiller Geduld. Naraes Lippen bewegen sich lautlos. Ein Gebet, ein Wunsch, nur ein flüchtiger Gedanke, aber doch so bedeutend. Neben ihr sitzt Yuwon regungslos. Was sie sich wohl wünscht? Ob sie ein innerliches Gebet aufsagt? Eine Münze rollt aus Yuwons Hand, kullert über den Boden und bleibt zwischen zwei Steinplatten stecken. Sie beugt sich vor, will sie aufheben, doch Narae ist schneller. Ihre Hände berühren sich, nur für die Dauer eines Atemzuges. “Herzlichen Glückwünsche liebes Schmetterlingsmädchen”, flüstert Yuwon in die schweigsame Bedeutsamkeit des Moments hinein, überwältigt von der Intensität ihrer Empfindungen.
“Ich habe sie gesehen.” Die Stimme des Jungen ist leise, aber klar. Er steht im Lehrerzimmer mit dem Rücken zur Tür, aufmerksam dem Direktor zugewandt. Er hält die Hände hinter dem Rücken verschränkt, als müsste er sich selbst daran hindern, sie zu einer Faust zu ballen. Sein Mund ist trocken. Er hätte es einfach für sich behalten können. Doch jetzt ist es zu spät. Der Direktor atmet durch die Nase aus, lehnt sich langsam in seinem Stuhl zurück, ohne seinen harten Blick von dem Jungen abzuwenden. “Bist du sicher?” Der Junge nickt. Sie versprechen sich allerlei Vorteile, diese wachsamen Augen, das Pflichtbewusstsein und das strenge Befolgen der Regeln. Von Schülern wie ihm gibt es viele. Sie erhoffen sich Anerkennung und Lob für den Gehorsam. “Ich werde ihre Namen notieren und die Lehrerschaft benachrichtigen. Ihre Eltern werden auch informiert.” Er dankt dem Jungen für seine Ehrlichkeit, schreibt seinen Namen, seine Klasse und seine Verdienste auf, bevor er ihn gehen lässt. Nachdem der Junge den Raum verlassen hat, breitet sich eine Stille aus. Aber es ist eine andere Stille als im Tempel. Sie ist schwerer, gesättigt mit etwas Unsichtbarem. Der Lehrer legt den Füller beiseite und faltet die Hände auf dem Schreibtisch.
Yuwon spürt Naraes Blick auf sich. Draußen rascheln Blätter im Wind und der monotone Gesang von Mönchen dringt an ihr Ohr. Als die Mädchen sich ehrfurchtsvoll verbeugend erheben, raschelt der Stoff ihrer Hanboks. Sie fügen sich in die bunt bemalte Umgebung des Tempels ein, wie Chamäleons, verschmelzen nahezu mit den Mustern der gemusterten Wände. Touristen strömen in die Haupthalle, die Ruhe ist vorbei. “Komm”, Narae schnappt Yuwon bei der Hand. “Das Geburtstagskind hat einen Mordshunger auf Galbitang.” Als sie beinahe am Tor zur Stadt angekommen sind, bleibt Yukon plötzlich stehen. “Halt, solange wir noch auf heiligem Boden sind, will ich dir mein Geschenk überreichen.” Sie holt eine Rolle aus ihrem Rucksackk, de mit einem Gummi zusammengebunden ist und überreicht sie Narae. Es ist ein selbstgemaltes Bild. Das Bild zeigt den Gangmun Strand, zwei Gestalten, die im Sand sitzen und eine schneeweiße Katze. “Es ist wunderschön!” Narae strahlt. Noch nie zuvor hat jemand ihr etwas so Persönliches geschenkt. Auf der Rückseite des Bildes liest sie “Uri Ajiteu. Für mein Schmetterlingsmädchen. In Liebe, Yuwon.”
© Elena Döhner 2025-02-28