Stell dir vor, man zwingt dich deine Heimat zu verlassen. Alles wofĂĽr du gelebt und gearbeitet hast musst du zurĂĽcklassen. Stell dir vor, du darfst nur das mitnehmen, was du tragen kannst. Keine Wertgegenstände, kein Geld. Während du panisch ĂĽberlegst, was du einpacken sollst, stehen bereits Menschen vor deiner HaustĂĽr. Sie warten. Warten darauf, dass du endlich verschwindest, denn sie wollen dein Haus und deinen Besitz fĂĽr sich haben. Du kennst einige dieser Menschen. Sie haben fĂĽr dich gearbeitet. Du hast ihnen ein gutes Leben ermöglicht, hast dich auch um ihre Familien gekĂĽmmert. Während du das Spektakel vor deiner TĂĽr fassungslos betrachtest, hörst du plötzlich gellende Schreie. Du eilst durch den Hinterausgang zum gegenĂĽberliegenden Haus, in dem dein Bruder und deine Mutter leben. Du rennst nach oben, siehst, wie sich deine Mutter auf dem Boden windend die Seele aus dem Leib schreit. Schockgefroren starrst du auf den Deckenbalken, an dem dein Bruder mit weit aufgerissenen Augen an einem Strick baumelt. Du registrierst, dass mehrere Männer polternd ins Haus eindringen. Mit Gewehren in der Hand wollen sie euch vertreiben, doch deine Mutter weigert sich mit Händen und FĂĽĂźen ihren toten Sohn zu verlassen und wird deshalb von den bewaffneten Aufsehern fast zu Tode geprĂĽgelt. Immer wieder wirfst du dich helfend dazwischen, wirst dabei selbst schwer verletzt. Dann zerrt man euch beide hinaus, verjagt euch. Du spĂĽrst keinen Schmerz, bist innerlich tot, doch diese traumatischen Erlebnisse verleihen dir ĂĽbermenschliche Kräfte. Nur so ist es zu verstehen, dass du während des Todesmarsches von BrĂĽnn bis zur österreichischen Grenze deine Mutter viele Kilometer auf deinem RĂĽcken tragen konntest und nur so ist es zu verstehen, dass du fremde Frauen und Kinder, die an diesem 31.05.1945 erschöpft aufgeben wollten, mit Engelszungen ĂĽberredet hast weiterzulaufen …
Meine Großmutter war für mich schon immer eine Heldin, auch als ich noch nicht wusste, welch schreckliche Tragödien sie überlebt hatte. Besonders verbunden haben uns Geschichten, die sie mir als Kind über ihre Heimat erzählte. Wir erlebten spannende Abenteuer auf der Festung Spielberg. Ich lernte dabei sowohl den berühmten tschechischen Räuber Babinsky, als auch Freiherr von der Trenck und viele andere kennen, mit denen wir unsere selbstgebackenen leckeren Buchteln und Kolatschen teilten. Viele Geschichten meiner Oma brachten mich zum Lachen. Wenn sie allerdings beim Erzählen weinte, wurde ich ebenfalls sehr traurig, weil ich spürte, wie ihre in Brünn verbliebenen Wurzeln an ihrem Herz und ihrer Seele zerrten. Ihr größter Wunsch, irgendwann in ihre Heimat zurückzukehren, wurde ihr leider nicht erfüllt. Sie starb 1978 in Deutschland.
Mai 2015, MĂĽnchen, U-Bahn-Station Odeonsplatz. Elektrisiert fixiere ich einen Wandbildschirm, lese: Bei einer Gedenkveranstaltung hat sich der OberbĂĽrgermeister von BrĂĽnn, PETR VOKRAL, fĂĽr die Vertreibung der BrĂĽnner Deutschen entschuldigt… Tränen schieĂźen mir in die Augen, ich zittere, taumle, muss mich setzen … Das war die InitialzĂĽndung fĂĽr mich, die Geschichte meiner BrĂĽnner Familie aufzuarbeiten. Und heute, 80 Jahre nach dem BrĂĽnner Todesmarsch, möchte ich mich bei Herrn Vokral fĂĽr seine Entschuldigung bedanken. Meine Oma hätte gesagt: “Sie sind ein sehr mutiger Mann! DEKUJI! ”
© Elisabeth Grosch-Waclowsky 2025-06-02