Das Auge des Sturms

Lia-Freyana

by Lia-Freyana

Story
Zuhause 2023

Ich blicke in die Kerze, die vor mir auf dem Boden steht und fühle den Sturm. Der Wind tobt und zerrt an den Rändern des Hauses und es fühlt sich so an, als würde er am liebsten alles mit sich reißen, was ihm in die Quere kommt. Jedes Atom, jede Idee, von der Leichtigkeit einer Feder bis zur Unbeweglichkeit eines Berges. Die Flamme der Kerze brennt aufgeregt und verbreitet einen weichen Duft von Lavendel, der sich unbemerkt im Raum verteilt. Sanfte Musik erklingt aus den Lautsprechern meines Handys und ich richte meine Aufmerksamkeit auf meinen Atem.


Ein…. Aus….


Der Sturm da draußen ist wie ein Spiegel. Ein Ebenbild für den Sturm in mir. Für die aufwühlenden Wellen an Empfindungen, die mir mein Körper offenbart. Meine Gedanken sind ruhig und gleichzeitig erfüllt mich eine zitternde Energie. Immer wieder nimmt sie zu, intensiviert sich, erreicht einen Höhepunkt und ebbt wieder ab. Es rüttelt und schüttelt an meinem Zentrum, so sehr, dass ich die Hände auf den Boden lege, um meinen Halt nicht zu verlieren. Mehrere Wellen durchfluten mich und Tränen tropfen sanft auf meine Haut. Ich nehme es wahr und überlasse meinem Körper die Führung. Lasse ihn sich wiegen in den Wellen des unsichtbaren stillen Tosens, das ich so lange versucht habe zu bändigen. Wie festzuhalten und zu deckeln in einem Glas und ja nicht zu entfesseln, da es sich so gewaltig anfühlt. Ich spüre die Kraft, die dem Sturm innewohnt. Eine Kraft, die immer wieder an meinen Wurzeln zerrt. Eine Kraft, die ich mir lange nicht erlaubt habe zu fühlen. Dieser stürmische Ort in mir, ein verbotener. Ich atme weiter. Immer weiter. Jeder Atemzug mein Anker und auf einmal wird es still.


Ein…. Aus….

Mein Atem fließt wie Wasser, erst tosend wie ein Fluss, dann langsam und sanft wie ein Bach, der sich durch die Wiesen schlängelt. Draußen ertönen Kirchenglocken und man hört nur noch ein leichtes Prasseln der Regentropfen auf dem Dach. In mir kehrt Ruhe ein und die wilden Bilder werden Teil meiner Seele. Sie wachsen und bilden Ranken, die sich verwinden und sich miteinander verzweigen. Bilder voller Freiheit und Liebe. Dankbarkeit und Lust. Verlust und Angst. Wut und Schmerz. Vergebung und Loslösen. Frieden.

Das Feuer der Vergangenheit knistert nun sanfter in mir und der brennende Schmerz lässt mein Herz ganz weich werden. Weich für den Hass und die Verzweiflung. Weich für jeden Moment, in dem ich mein Herz beschützt habe. Weich für die Härte und Spannung, die Felsen, an denen ich mich festgeklammert habe, um zu überleben. Und langsam erkenne ich das Auge des Sturms. Es war immer da. Wartend, dass ich es endlich erkenne.

© Lia-Freyana 2023-11-05

Genres
Novels & Stories, Spirituality
Moods
Dunkel, Emotional, Hoffnungsvoll, Mysteriös, Adventurous
Hashtags