„Er hat das Glas nie ganz voll gemacht, wenn er die Getränke an den Tisch gebracht hat. Das hat mich geärgert.“
Das war einer der vielen vielen Sätze der Erinnerungen, die ich an diesem Abend meinen Freunden erzählte. Wir lagen im Bett, einfach hingewürfelt. Und ich redete, erzählte, erinnerte. Die Tränen waren für diesen Tag schon aus.
Aber die Angst zu vergessen war so groß, dass ich das Gefühl hatte, möglichst viel zu erzählen, zu teilen. Damit das große Gut des Erinnerns nicht verloren geht. Ich war ja jetzt alleine fürs Erinnern zuständig. Denn wer sollte sich sonst an unsere Beziehung erinnern, wenn er doch jetzt tot war.
3 Tage zuvor beendete ich unsere Beziehung. Es war eine gute aufregende Beziehung, doch meine Kraft war aus. Mein Freund kämpfte seit langem mit psychischen Problemen. Ich war der Motor für uns beide. Er war schwer, ich war leichtfüßig und abenteuerlustig. Er war der langsame, getragene Walzer, ich der Jive.
Nach einem Autounfall, der mich sowohl körperlich, als auch seelisch aus der Bahn warf, brauchte ich viel Kraft für mich und die Genesung. Von jetzt auf gleich aus dem Alltag gerissen werden, lange Bettruhe, dann gehen lernen – das brauchte Energie.
Ich musste jetzt gehen, auf mich achten und bei mir sein. Ich konnte nicht länger der Motor sein, mühsam versuchen, den Rhytmus des traurigen langsamen Walzers zu erhöhen und krampfhafte Freude zu versprühen.
Ich zog also einen Schlussstrich, um mich selbst zu retten.
Als ich tags darauf die Nachricht bekam, dass mein Freund tot war, wusste ich sofort, dass es wahr ist. Da war kein Zweifel, kein Nicht-Glauben-Können. Ich spürte, dass es wahr ist und ab jetzt meine neue Realität sein würde.
An diesem Abend kamen wir zusammen. Viele seiner Freunde, die Geschwister. Saßen beisammen und redeten. Erinnerten, erzählten und waren einfach beisammen. Dieser Abend tat unglaublich gut.
Ich hatte das Gefühl, dass er in der Fülle dieser Erinnerungen konserviert werden kann. Zumindest ein bisschen. Doch die Wucht der Gefühle war immens. Manchmal wurde ich aus dem Nichts von einem Weinkrampf überfallen. Ich lernte schnell, diesen Attacken nachzugeben. Mich hinzugeben. Dieses Loslassen fiel doppelt schwer, hatte doch die gesamte Situation mir schon jegliche Kontrolle entrissen.
Inzwischen sind 11 Jahre vergangen. 11 verdammt gute, anstrengende, lustige, traurige, aufregende und aufwühlende Jahre. In diesen Jahren hat sich alles verändert. Immer wieder.
Aber in diesem Sommer vor 11 Jahren machte meine Welt nach einer längeren Schleuderfahrt eben diese echte Vollbremsung, überschlug sich und blieb kopfüber hängen. Und ich? Ich lag verletzt mitten im Chaos und versuchte mich aufzurichten.
Ich lernte, dass es nur ein durch den Schmerz gehen gibt, kein vom Schmerz weg. Und das mit jedem „durch“ wieder ein Stück geschafft ist.
Heute bin ich geheilt. Ich habe Narben, aber der Schmerz ist meist weg. Ich erinnere mich gerne, freue mich über Erlebtes und erlebe Ruhe.
© Lisa Schweitzer 2019-11-14