by Felix Kraus
Er war am Ende. Er starrte auf die schwarzen und weißen Tasten vor ihm, in denen er einst unendlich viele Möglichkeiten gesehen hatte; unendlich viele Wege, sie miteinander zu kombinieren; unendlich viele Arten der Spieltechnik; unendlich viele Stücke zu spielen!
Aber heute sah er im Muster der Tasten bloß all die Stücke, die er schon einmal gespielt hatte. Und das waren viele. Doch nicht viele genug, um seine Augen davon zum Leuchten zu bringen, so wie sie damals geleuchtet hatten vor der unglaublichen Bandbreite an Möglichkeiten, die einem jede einfache Klaviatur bietet.
Damals hatte er diese Reihe an Tasten noch nicht so gut gekannt wie jetzt. Oh ja, er kannte sein Klavier mittlerweile in- und auswendig! Er liebte seinen Klang, seinen Baustil – und hasste seine Macken und die Kratzer im schwarzen Holz zugleich. Immer wieder dieselben Töne in denselben Kombinationen schienen der Mechanik über die Jahre schwer zu schaffen gemacht haben. Aber genau das nervte ihn auch; sowas musste ein normales Klavier doch aushalten, dass man darauf übte, oder etwa nicht? Doch eigentlich übte er nicht darauf; er spielte immer wieder das, was er schon konnte. Außerdem war der Klavierstimmer lange nicht mehr hier gewesen.
Anstatt aber dabei besser zu werden, dieselben Stücke immer wieder zu spielen, wurde es mit jedem Mal schlimmer. Denn anstatt zu üben, spielte er jedes Mal wie auf einer Konzertbühne, um sich am Klang seines Spiels zu erfreuen. Jeder Pianist tut das gerne. Doch wer seine Fähigkeiten nicht trainiert, nichts Neues lernt, sondern sie einfach nur immer wieder abruft, dem verstauben sie, verwahrlost wächst das Gras darüber und je länger man wartet, desto mehr verrotten sie.
Als sein Blick die Tasten abermals entlang glitt, fiel ihm etwas auf. Drei schwarze Tasten folgten immer auf zwei, denen wiederum folgten drei und so weiter. Das fiel ihm selbstverständlich nicht zum ersten Mal auf – sonst wäre er kein Pianist – aber es schien ihm plötzlich etwas zu sagen. Dieses unsymmetrische Muster, das sich doch immer wiederholte und eine Regelmäßigkeit bildete.
Ein Musiker, dachte er sich langsam, kann nicht gleichbleiben. Wie das Klavier eine Abwechslung von Dreier- und Zweiergruppen an schwarzen Tasten braucht, braucht der Musiker auch eine Abwechslung: zwischen Übung und Spiel, Für-sich-Spielen und Auftreten, zwischen Einsamkeit und Austausch, Solo- und Ensemblespiel. Selbst wenn ein Musiker der beste Pianist der Welt ist, nur noch Auftritte macht, immer sein Best-Of spielt und nie mehr übt – dann wird er zu einem Klavier ohne schwarze Tasten, dann wird die ganze Klaviatur weiß, verwirrend und haltlos.
So wie seine Klaviatur ihm jetzt vorkam. Wie ohne schwarze Tasten; ohne den Reiz der Besonderheit, den Einklang von Muster und Unregelmäßigkeit – ohne das, was Musik ausmacht.
Entschlossen setzte er sich vom Klavierhocker weg an seinen Computer und suchte nach einer Seite für Notenblätter. Es war Zeit, ein neues Stück zu lernen!
© Felix Kraus 2022-08-21