Ich stand am Beginn des berĂŒhmten, geheimnisvollen, in den Boden eingelassenen Labyrinths. Es befindet sich in der Kathedrale von Chartres im Departement Eure-et-Loir in Frankreich. Das Anfang des 13. Jahrhunderts gefertigte Labyrinth aus schwarzen und grauen Steinplatten ist im FuĂboden der Kathedrale eingearbeitet. Es misst ĂŒber 12 Meter im Durchmesser und ist ein 261,50 m langer Weg, der sich durch 11 konzentrische Kreise und 34 Kehren zum Zentrum windet. Die Kirche war in weihevolles Dunkel gehĂŒllt. Die 500 Jahre alten Glasfenster verschluckten die Strahlen der Abendsonne, gaben sie verwandelt, gebrochen, in sanfte Farben zerlegt, weiter in die Mitte.
Da war nun dieses Labyrinth, auf dessen Begegnung ich schon so lange sehnsĂŒchtig gewartet hatte. Ich hatte einiges darĂŒber gelesen: ĂŒber den Ursprung, die Symbolik, den damit verbundenen Ritus und vor allem ĂŒber die geomantischen Besonderheiten. Viele Male bin ich auf Abbildungen in BĂŒchern mit dem Finger den schwierigen Weg nach gegangen und war jedes mal ĂŒber die unerwarteten Wendungen verblĂŒfft. Immer dann, wenn ich glaubte der Mitte schon sehr nahe zu sein, fĂŒhrte der Weg wieder ganz an die Peripherie.
Endlich wollte ich den gleichen Weg beschreiten, mich den EindrĂŒcken und GefĂŒhlen auf diesem Weihegang ĂŒberlassen. Doch was erwartete mich tatsĂ€chlich? Das Labyrinth war, bis auf einen kleinen Streifen, mit Sesseln vollgestellt. Einfach unpassierbar gemacht! Bitterkeit und Groll stiegen in mir auf: auf die katholische Kirche, mit ihrer unfassbaren Ignoranz, tiefen, mystischen Erlebnissen gegenĂŒber. Das ist nur allzu bedauerlich, denn das Labyrinth von Chartres ist (wie die Kathedrale insgesamt) ganz einzigartig. Es ist mit einem Durchmesser von fast 13 Metern das gröĂte und Ă€lteste französische Labyrinth, um 1200 entstanden.
Ich setzte mich, versuchte erstmal, die EnttĂ€uschung hinunterzuschlucken. Dann erforschte ich es ein kleines StĂŒck. Mein Pendel ĂŒberraschte mich: rechtsdrehende und linksdrehende Erdstrahlen wechselten einander ziemlich rasch ab. Der Pilger, der diesen Weg ging, war daher einem stĂ€ndigen Wechselbad der Energien ausgesetzt. Folgt man in der Kirche dem vorgezeichneten Weg, kann man sich nicht verirren. Der Weg ist nicht gerade, es gibt stĂ€ndige Kehrtwendungen, manchmal erscheint das Zentrum schon ganz nahe, dann entfernt man sich wieder: Der Weg zum Heil ist verschlungen, auf ihm sind Reue und BuĂe fĂŒr die begangenen SĂŒnden gefordert. SchlieĂlich gelangt man aber doch zum Ziel. Der âAriadne-Fadenâ ist hier der Glaube, der einen, wenn man nur geduldig genug ist, unweigerlich ins âhimmlische Jerusalemâ fĂŒhrt. Danach geht man den Weg zurĂŒck und kann als neuer, gelĂ€uterter Mensch vor den Altar treten.
© Ulrike Sammer 2024-12-08