Das Mädchen mit dem Rucksack

Constantin Tartarone

by Constantin Tartarone

Story

Seht nur! Dort drüben! Das Kind, das den Ranzen mit sich schleppt. Der monströse Ranzen, geflickt aus Stoffen und Seide. Gefüllt mit schwerer Last. Schmerzhafter Last. Ob sie das schwere Gepäck noch lange stemmen wird? Ob sie bald unter ihm zusammenbrechen wird? Na ja, uns kann das ja egal sein. Solange sie unsere Ängste und das Leid, das uns plagt, mit sich nimmt, muss sie keine Bedeutung haben. Solange sie die bedrückenden Dinge nimmt und in ihren Rucksack stopft, ist alles im Lot. Ob sie danach vor Erschöpfung zusammensackt, ist nicht unsere Angelegenheit. Es ist die Angelegenheit von niemandem. Sie hat sich dazu entschlossen, den bohrenden Schmerz und die Trauer an sich zu nehmen. Das Leid eines jeden auf ihre Schultern zu nehmen. Und es ist auch gut so. Für uns zumindest. Niemand möchte ein trauriges Leben leben, da kommt ein kleines Mädchen, das dir deine Qualen abnimmt, nur zu Recht. Solange es uns gut geht, brauchen wir uns keine Gedanken um sie zu machen. Ob sie die Last nicht länger aushält, geht uns nichts an.

Niemand hat ihr Gesicht je gesehen. Nur den gigantischen Sack auf ihrem Rücken, gefüllt mit Angst, Trauer, Wut und Eifersucht. Mit all den schlechten Emotionen der Menschen. Der Ranzen schien aufgepumpt zu sein und drohte beinahe zu platzen, als könnte er nicht noch mehr Sorgen aufnehmen. Aber das muss uns nicht interessieren. Niemanden muss das etwas angehen. Solange sie uns unsere Trübsale abnimmt und verschwindet. Wenn sie weiter von Dorf zu Dorf zieht und hinter den bewaldeten Hügeln im Sonnenuntergang nicht mehr zu sehen ist, sind wir sie fürs Erste wieder los. Solange bis uns wieder neue Sorgen erhaschen. Dann wird sie wieder zurückkommen und die neue Trauer an sich reißen. Wie schon seit so vielen Jahren. So wie es auch bis zu ihrem Tod bleiben musste. Man könnte sagen, sie ist unser kleiner Engel. Der Engel, der Schmerz auf sich nimmt, um uns zu befreien. Solange wir glücklich sind, muss sie uns nichts angehen. Erst wieder, wenn uns neuer Hass erwartet. Dann brauchen wir ihre Hilfe. Dann kann sie sich sehen lassen. Dann kann sie ihre blassen, knochigen Arme zeigen. Und danach, danach wenn alle im Dorf wieder heiter gestimmt sind, muss sie abzischen, bevor sie früher oder später wieder zurückkehrt, um uns erneut unter die Arme zu greifen. Denn schließlich wurde sie dafür geboren, richtig? Einen anderen Lebensinn hat sie nicht, oder? Uns zu befreien, bis wir wieder auf sie angewiesen sind. Bis sie ihr kurzes Haar wieder zeigen darf. Bis sie wieder mit ihrem Rucksack erscheint. Bis sie wieder all unsere Sorgen auffrisst.

© Constantin Tartarone 2021-05-07

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