Alice verharrte so lange in der Dunkelheit, bis sich ihre Augen daran gewöhnt hatten und sie schließlich mindestens genauso viel sehen konnte wie zuvor mit der Laterne. Alice konnte nicht benennen, wie viel Zeit vergangen war, bevor sie schließlich beschloss, nun doch eine der Türen zu öffnen. Bloß welche?
Die roséfarbene Tür mit dem goldenen Knauf war schön, aber zu schön, um wahr zu sein. Diese Tür war gewiss für eine erhabene Königin bestimmt, oder eine berühmte Schauspielerin. Aber gewiss nicht für Alice; Alice mit ihrem zerzausten blonden Haar, ihren dreckigen bloßen Füßen und ihrem einst so hübschen weißen Kleid, das nicht mehr hübsch war, weil es schwarze Flecken hatte. Nein, Alice verdiente diese Tür mit dem goldenen Knauf nicht. Also wandte sie sich rasch davon ab und der alten Holztür zu, die überhaupt keine Klinke zu haben schien. Alice nahm all ihre Kraft zusammen, trat gegen die Tür, schlug auf sie ein, immer und immer wieder, so lange, bis ihre Zehen blutig und ihre Fingerknöchel blau und wund waren. Doch die Tür ging nicht kaputt. Sie öffnete sich nicht. Es war zwecklos.
Ächzend sank Alice auf die Knie. Mittlerweile war ihr so kalt geworden, dass sie zu zittern begonnen hatte. Warum um alles in der Welt war sie hier? Wieso war sie dem weißen Kaninchen nachgelaufen? Warum hatte sie auf die flüsternden Bäume gehört? Sie hätte in ihrem Garten bleiben sollen. Dort, wo alles sicher war. Dort, wo man ihr sagte, wann sie ihre Schuhe anziehen und sich ihr Bändchen ins Haar flechten sollte.
Alice weinte.
Die Tränen kullerten ihr über die Wangen wie kleine flüssige Kristalle, und es waren so viele, dass Alice irgendwann in einem Meer ihrer eigenen Traurigkeit schwamm, hilflos zappelnd wie ein Fisch. „Was soll ich nur tun?”, spuckte sie. Das Tränenwasser war salzig und sauer und süß und brannte auf ihrer Haut. Das Wasser stand nun bis zum goldenen Knauf der roséfarbenen Tür, und Alice wollte aufhören zu weinen, aber sie konnte einfach nicht. Höher und höher wurden die Wellen, tiefer und dunkler der Ozean, und nirgendwo war Land in Sicht. Als das Tränenmeer Alice schließlich verschluckte, da fragte sich Alice, ob es nicht ratsamer wäre, aufzugeben. Nicht mehr zu kämpfen. Nicht mehr zu leiden. Und dann dachte sie an den goldenen Knauf und daran, dass sie ihn einfach nur drehen musste, um die Tür zu öffnen. Die Worte der Grinsekatze kamen ihr in den Sinn:
„Du entscheidest.”
Und als das Wasser in ihre Lungen drang und sie fürchtete, zu ertrinken, da entschied Alice.
Mit beiden Händen griff sie den Knauf, und ruckartig drehte sie ihn herum. Das gelang leichter als gedacht. Die Tür schwang auf und sog Alice hindurch. Alice hustete und spuckte und hustete noch mehr, und plötzlich zuckte ein Blitz durch ihren Körper. Er durchfuhr sie von Kopf bis Fuß, von Herz bis Seele, und ehe sie sich versah, da war sie zurück im Wald.
Alice lauschte. Kein Flüstern. Kein Hauchen. Nichts. Sogar die Bäume waren still. Überhaupt war es viel zu still. Verdächtig still.
© Sandra E. Mae 2022-03-05