by JonasMartens
Ein Sommertag Mitte der 90iger . Es sind Ferien und das Wetter für die kommenden Tage ist perfekt angesagt. Wieder einmal zieht es mich in die Berge, eine Nacht am Dachstein soll es werden. Mit dem Zug geht’s am Vormittag von der steirischen Hauptstadt nach Schladming, von dort mit dem Bus weiter zur Türlwandhütte. Die Gondel wird links liegen gelassen, steil führt der felsige Weg bergauf Richtung Hunerscharte. Wanderer und Bergsteiger kommen mir entgegen, als ich auf den Hallstättergletscher gelange, der sanft Richtung Dachstein ansteigt.
Beim Beginn des Felsanstieges, der sogenannten Randkluft, kommen mir die letzten Alpinisten an diesem Tag entgegen. Es wird ruhiger, die Gondel hört man schon lange nicht mehr, auch die leisen Geräusche aus Richtung der Seethalerhüttte verstummen. Es wird ungefähr fünf Uhr sein, als ich den höchsten Gipfel der Steiermark und Oberösterreichs erreiche. Angenehm warm und windstill ist es. Und ruhig. Ganz ruhig. Ab und zu unterbrichte eine vorbeifliegende Dohle die Stille.
Aus meinem Rucksack packe ich die paar Sachen, die ich mir für meinen Schlafplatz auf knapp 3000 Meter mitgenommen habe: einen Biwaksack als Schutz gegen die spitzen Steine, die Unterlagsmatte und meinen Daunenschlafsack, der mir eine warme Nacht garantiert. Schnell ist die Schlafstätte fertig, meine Blickrichtung geht zum avisierten Sonnenuntergang, etwas rechts davon glänzen die beiden Gosauseen in der Abendsonne.
Meine Atmung wird ruhiger. Ich genieße die Stille und den grandiosen Ausblick in dieser Einsamkeit. Alle Gipfel der Schladminger Tauern erstrahlen noch in der Sonne. Von der Hochwildstelle bis zur Steirischen Kalkspitze. Im Tal wird langsam schattig. Erst unten im Ennstal, dann auch in der Ramsau.
Um es gemütlicher zu haben, ziehe ich meine Bergschuhe aus und krieche in den Schlafsack. Für diesen Moment habe ich mir ein Taschenbuch mitgenommen. Patrick Süskind. Das Parfum. Die Situation ist irgendwie surreal. Vor mir erstrahlen die letzten Gipfel im Sonnenlicht und ich lese wie Jean-Baptiste Grenouille, die Hauptperson in Süskinds Roman, im Südfrankreich des achtzehnten Jahrhunderts Düfte aus Menschen einfängt, um damit Parfums zu kreieren.
Rundherum wird alles kontrastlos, das fehlende Licht der Sonne lässt nur noch wenig Details der Landschaft erkennen. Die letzten wärmenden Strahlen verschwinden hinter dem Gosaukamm. Mit der Stirnlampe lese ich noch ein paar Seiten. Dann ist es finster. Absolute Stille. Im Schlafsack ist es angenehm warm. Meine Gedanken kreisen bei Jean-Baptiste, wie er in stockdunkler Nacht in Montpellier seine nächsten Opfer sucht.
© JonasMartens 2021-12-26