Das Radio im Bett

Anne Pollenleben

by Anne Pollenleben

Story

Triggerwarnung.

Zehn Wochen war es her, seitdem ich das letzte Mal als freier Mensch meinen Alltag leben konnte. Vor diesen zehn Wochen hätte ich niemals gedacht, dass ich als pubertierendes Mädchen die Schule und die Menschen vermissen würde.

Ich saß wie gefangen auf meinen weiß bezogenem Bett, neben mir stand ein klassisches Radio. Stundenlang hörte ich schlechte Popmusik, die für die Massen produziert wurde, bis mir mein Bruder selbst gebrannte CD’s in die Psychiatrie brachte. Da ich mich nur zum Essensraum, zu den Duschen und Therapieräumen bewegen durfte, blieb mir nichts anderes übrig, als Musikprofi zu werden. Vielleicht war ich darin erfolgreicher als mit dem Hungern.

Der Tag der Tage kam und ich musste die Klinik das erste Mal verlassen, um in meine 80km entfernte Schule zu fahren. Mein Vater holte mich ab, im Gepäck hatte ich einen Block, einen Stift und der restliche Raum wurde mit Essen für vier Mahlzeiten gefüllt. Damit ich nicht zu wenig Kalorien zu mir nehme, damit ich weiter gemästet werden konnte.

Plötzlich fühlte ich mich wieder schwächer auf den Beinen. Ich zitterte und hatte Angst vor den Reaktionen und Blicken meiner Mitschüler. War ich denn noch die Partymaus oder bekam ich bereits den Psycho-Stempel auf die Stirn gebrandmarkt?

Das Gefühl der großen Freiheit blieb mir fern, stattdessen wackelte ich mit meinen dünnen Beinchen die Steintreppen zum Schuleingang hinauf. Ich öffnete sie langsam – in der Hoffnung, dass mich mein Vater zurückrufen würde. Er tat es jedoch nicht.

Schüchtern bewegte ich mich durch die Flure, bis ich zum Klassenzimmer ankam und ich meine Mitschüler im Stuhlkreis vorfand. Mit Sicherheit lief ich rot an. Mein Herz raste, meine Handinnenflächen schwitzten und das Einzige, was ich denken konnte, war: Hoffentlich nehme ich beim Schwitzen und vor Adrenalin ab.

Alle Blicke waren auf mich gerichtet und nur ein freudestrahlendes Gesicht von meiner besten Freundin konnte ich sehen. Ich hatte sie seit meinem stillen Abgang in die Klinik nicht mehr gesehen und genoss demzufolge ihre herzliche Umarmung.

Doch tief im Inneren kam ich mir vor, wie in einem Film. Mit einem Ball entschied sich, wer mir Fragen stellen konnte, aber keiner traute sich. Danach gingen alle raus, um ein Klassenfoto zu machen. Wenn ich mir das heute anschaue, sehe ich die Angst und die Scham in meinen Augen.

Nach zwei Stunden durfte ich wieder gehen. Als ich nach einer weiteren Autofahrt wieder in der Psychiatrie ankam, freute ich mich auf mein Radio im Bett und die innere Ruhe, zu wissen, dass ich hier niemanden gefallen musste.

Wahrscheinlich vermisste ich die Schule und die Menschen doch nicht, nur die Kontrolle meiner Selbstbestimmtheit und Entscheidung, wann ich auf Toilette gehen darf – was ich in der Klinik erfragen musste.

© Anne Pollenleben 2021-05-14

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