Das Riesentor vom Stephansdom

Ulrike Sammer

by Ulrike Sammer

Story

Da stehe ich nun vor dem spätromanischen Mauerwerk der Hauptfassade des Stephansdoms aus 1230 und fühle mich in diese Zeit hinein versetzt. Als ich zum ersten Mal wahrnahm, was da links und rechts vom „Riesentor“ etwas oberhalb auf zwei Doppelsäulen ist, glaubte ich meinen Augen nicht zu trauen: Was suchen ein Penis und eine Vulva an der Fassade des Stephansdoms? Bis heute ist das Rätsel nicht geklärt. Eine Theorie vermutet, dass an diesem Platz ein römisches Fruchtbarkeitsheiligtum existierte. „Vor diesen heidnischen Dingen hat man sich im Christentum ein bisschen gefürchtet und indem man sie außen an der Kirche anbringt, bricht man ihre Macht“, so der Domarchivar. „Die Genitalien könnten aber auch einfach ein Zeichen dafür sein, dass die Sexualität große Macht in unserem Leben hat.“

Das Hauptportal, das so genannte „Riesentor“, liegt auf der Westseite des Doms zwischen den beiden „Heidentürmen“. Es wurde zwischen 1230 und 1250 in romanischem Stil erbaut Es zählt zum ältesten Bestand der Kathedrale. Die Herkunft des Namens ist ungewiss, er leitet sich eventuell davon ab, dass über dem Tor lange Zeit ein Mammutknochen angebracht war, der als Knochen eines Riesen angesehen wurde. Eine andere Geschichte erzählt, dass der Riesenknochen das Schienbein des hl. Christophorus gewesen sein soll. Aber eigentlich leitet sich die Bezeichnung von „risen“ ab, das „hineinziehen“ bedeutet. Der Mensch soll durch diese Pforte wie durch einen Trichter hineingezogen werden. Das Portal wird deshalb auf jeder Seite von sieben Säulen begrenzt, die mit gewundenen Pflanzenmustern geschmückt sind und trichterförmig zusammen laufen. Darüber sind aus Stein gemeißelte Bilder, die ein tolles Treiben von Dämonen, Menschen und Tieren zeigen. Gut und Böse sind nicht sofort auseinander zu halten. Meistens kämpft das Gute gegen Böses, aber auch Böses mit Bösem. Auf den Kapitellen befinden sich Figuren von Aposteln und Heiligen in teils schwer deutbaren Szenen. Über den Kapitellen erheben sich reich gegliederte Bögen, die das Tympanonfeld umrunden, auf dem Christus als Weltenherrscher in einer Mandorla dargestellt ist, wobei ein Knie der Statue frei ist. Die Bedeutung dieser Symbolik ist unklar, sie wird mit Aufnahmezeremonien in Bauhütten in Verbindung gebracht. An der linken Seite des Vorbaus sind zwei rätselhafte Eisenstangen und ein kaum erkennbarer Kreis zu sehen. Die Stangen sind Längenmaße. Die obere misst 77,7 cm und wird die kleine Elle genannt, die untere 89,7cm. Es ist nicht klar, was ihre Bestimmung war. Dienten sie den Stoffhändlern als Richtmaß und der Kreis für die Größe eines Brotes? Sicher erscheint, dass die Stäbe eines der vielen Zahlengeheimnisse des Domes bergen. Wenn aus der großen Elle ein Dreieck gebildet wird, ist seine Höhe exakt das Maß der kleinen Elle.

© Ulrike Sammer 2022-05-27

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