Das Schicksal stellt die Weichen

Emma Breuninger

by Emma Breuninger

Story

„Oben klopft es“. Mutti versucht Papa zu wecken. Der murmelt im Halbschlaf: „Es ist noch nicht 6 Uhr“. Doch Mutti lässt keine Ruhe: „Aber man klopft heftig“. Nun hört auch Papa das Klopfen an der oberen Tür und springt aus dem Bett.

Er zieht sich an, ohne Licht zu machen. Er will den kleinen Sohn nicht wecken, geht in den Flur und schaltet das Licht ein. In diesem Moment verstummt das dauernde Klopfen an der Tür oben. Er geht die Treppe hinauf und erblickt hinter der Glastür zum Eingang im beleuchteten oberen Vorraum drei „Sowjetmenschen“ in Uniform. Einer der drei ist ein Offizier, den Papa schon einmal an seinem derzeitigen Arbeitsplatz gesehen hat. Er grüßt freundlich. Der zweite, ein Unteroffizier, sagt auf Deutsch: „Wir müssen über eine sehr wichtige Sache mit Ihnen sprechen. Können wir in Ihre Wohnung kommen?“ Papa führt sie die Treppe hinunter in die Küche. Der Unteroffizier meint: „Das ist kein schöner Ort, und wo ist Ihre Frau? Ihre Frau soll bei der Besprechung dabei sein; wir wollen in das Zimmer gehen.“

Im Zimmer setzt sich der Offizier gleich an den runden Tisch auf den mittleren Stuhl; der Unteroffizier nimmt den Stuhl rechts davon und Papa den linken. Der dritte „Sowjetmensch“, ein einfacher Soldat, nimmt einen Stuhl, stellt ihn neben die Tür und setzt sich darauf, mit seiner Maschinenpistole auf dem Schoß. Der Offizier beginnt Russisch zu sprechen; der Unteroffizier übersetzt. Der Offizier sagt: „Auf Befehl der sowjetischen Militäradministration müssen Sie fünf Jahre in Ihrem Fach in der Sowjetunion arbeiten. Die Arbeitsbedingungen sind dieselben wie für einen Russen in entsprechender Stellung. Sie werden Ihre Frau und Ihr Kind mitnehmen. Sie können von Ihren Sachen so viel mitnehmen, wie Sie wollen. Packen Sie!“

Hartmut zwingt sich, die Fassung nicht zu verlieren: „Die Abfahrt ist heute. Wo ist Berlin-Kaulsdorf? Dort steht schon der Zug. Er wird um 12.00 Uhr abfahren.“ Papa: „Aber man muss doch verschiedene Sachen noch in Ordnung bringen, Rechnungen zahlen, geliehene Gegenstände zurückgeben, uns bei der Polizei abmelden“. Der Offizier: „Unnötig, packen Sie; es sind genügend Soldaten um Ihr Haus positioniert, welche Ihnen helfen können; auch ein Lastwagen steht vor dem Haus“. Um 11.30 Uhr sind Papa, Mutti und mein zweijähriger Bruder reisefertig. Die Lage ist klar. Der Offizier kramt in seiner Aktentasche herum, in der eindeutig ein Revolver zu sehen ist.

Es ist Dienstag, 22. Oktober 1946, in der ganzen Sowjetischen Besatzungszone, aus der 1949 die DDR entstehen wird, werden Wissenschaftler, Ingenieure, Mechaniker, Techniker aller Art samt Familien zeitgleich aus den Betten geholt und sitzen mittags in vorgeheizten ZĂĽgen, die sie in die Weiten des Riesenreiches der UdSSR bringen werden, in eine ungewisse, unheimliche Zukunft.

Aus fünf Jahren werden elf Jahre und 3 Monate. Ich werde sieben Jahre später in Moskau geboren, an einem eiskalten Wintertag.

© Emma Breuninger 2020-07-02

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