Das Underground-Paläozoikum von Wien

Hannes Stuber

by Hannes Stuber

Story

[1974] Zu Beginn der Siebzigerjahre war Wien gruselig, alles in Grau und Schwarz. Es gab verfallende Gebäude, rumpeliges Kopfsteinpflaster und mit Hundekot beschmutzte Gehsteige. Schwarz gekleidete Kohlentandler ratterten auf Zweitakt-Transportern durch die Gassen und stellten Heizmaterial zu. Stinkende Autos durchquerten die Innenstadt. Alte Frauen gingen in grauen Mänteln und grauen Hüten und fütterten Tauben. Die Branntweiner, winzige Schnapskneipen, waren ab sechs Uhr früh offen. Da konnte man sich bereits betrinken.

Mit langen Haaren und Leder- oder Jeansjacke wurde man überall gehasst. Es gab wenige Lokale, in die man als Jugendlicher gehen konnte und wo unsere Musik gespielt wurde. Das Hellas des Griechen Kostas, am Naschmarkt, war eines davon. Oder das Café Savoy in der Zedlitzgasse. Beide abends immer gesteckt voll.

Besser wurde die Situation für die progressive Jugend abends. In der Schottenfeldgasse gab es den Jazz Freddy, geführt von der Stimmungskanone Jazz Gitti. Mit ihr hatten wir oft eine Hetz. Am Schwedenplatz lag das unterirdische Jazzland. Uzzi Försters Fünfziger feierten wir dort, und der Jubilar, ein Saxophonist, erhielt eine große Torte in Form eines Saxophons. Hinter der Wienzeile war die Jazz Spelunke. Der Tschick, ein stadtbekannter Clochard mit Raucherstimme, saß hier gern bei seinem Gratis-Vierterl Wein und behielt dabei seinen grauen Mantel an. Gleich um die Ecke gab es die Gärtnerinsel, gut besucht an Samstagen, wenn der wöchentliche Flohmarkt stattfand.

Der progressive Musikliebhaber besuchte in dieser Zeit des Wiener Musik-Paläozoikums keine der kommerziellen Discos, wo von Abba bis Bee Gees der Kitsch rauf- und runtergespielt wurde, sondern ging in jene Lokale, in denen man Hendrix, Stones, Led Zeppelin, Santana, Zawinul, Hancock und dergleichen hörte.

Etwa in den Club Electronic am Judenplatz, den Harry führte, der älter war und wie eine Vaterfigur für manche. Im bemalten Nebenraum konnte man übernachten, wenn man zu viel getankt hatte. In der Otto-Bauer-Gasse befand sich das Go-Go, am Schwarzenbergplatz das Atrium, das Flash in Floridsdorf. Im Mondscheinstüberl in der Neubaugasse installierte sich die Camera Obscura, mit harter Musik und Drogen. Kein Wunder, dass die Polizei dort Razzien veranstaltete. Das hieß: Musik aus, Licht an, alle durchsuchen. Im Voom-Voom war es entspannter, wo Lipperl arbeitete, ein kleinwüchsiger DJ, der den Weltrekord im Nonstop-Plattenauflegen absolvierte. Sechs Tage und etliche Stunden, mit fünf Minuten Pause pro Stunde, saß er über dem Plattenspieler. Amphetamine waren kein Thema. Er kam ins Buch der Rekorde.

Die Discos mussten um zwei Uhr schließen. Es blieb nur das Exil in der Nussdorferstraße, das bis vier Uhr geöffnet war. Hier trafen sich die letzten Nachtschwärmer, ehe man ins Cafe Drechsler am Naschmarkt wechselte, zum Frühstück unter schwarz geränderten Augen.


© Hannes Stuber 2020-09-28

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