Das verstaubte, alte Kassenbuch

Helmut Wigelbeyer

by Helmut Wigelbeyer

Story

Viele Jahre nach dem Tod meines Vaters räumte ich in seinem Semmeringer Geburtshaus nach dem Ableben seiner 96jährigen Schwester, meiner Tante Melanie, eine Rumpelkammer. Dabei stieß ich auf ein altes, verstaubtes Kassenbuch mit der Aufschrift: “Viktor Wigelbeyer, Kriegserinnerungen 1916-1918”. Nach mühseligem Übertrag der kleinen, in Kurrent gehaltener Handschrift in heutige Normalschrift, gelang eine aus 120 Seiten bestehende Dokumentation, die nur auszugsweise geschildert werden kann. Darin beschreibt der Vater seine Einberufung zur k&k-Armee, die Grundausbildung, seine spätere Ausbildung zum Alpinsoldaten, sowie die Versetzung zu den Bergführer-Sturmkompanien, einer Eliteeinheit der Armee, die allerdings aufgrund ihrer gefährlichen Einsätze als “Himmelfahrtskommando” galt.

” Am 1. August 1916, drei Monate nach meinem neunzehnten Geburtstag, rückte ich ein, um des Kaisers Rock zu tragen. Leider war er schon etwas bunt von Schmierflecken. Am Vortag hieß es von daheim Abschied zu nehmen. Von der Mutter, den drei Schwestern, meinen Freunden und meinem geliebten Semmering. Mit leichtem Herzen, voll Begeisterung, endlich auch am Krieg teilnehmen zu dürfen, fuhr ich nach Wien. Vater, der es sich nicht nehmen ließ, mit mir zu fahren, kaufte noch das Nötigste und brachte mich zur Kaserne. Im Hof der Siebenbrunnenkaserne wimmelte es schon von Rekruten. Nach zweistündigem Warten ging die Einteilung vor sich. Unser Zugzimmer lag im dritten Stock eines Kasernblockes. Wir fanden finstere Gänge, aber helle, große Schlafräume vor. Unser Saal hatte die Fenster zu einer belebten Straße, die uns einige Abwechslungen versprach. Unser Zug bestand aus vierzig Rekruten, durchwegs nette Burschen, mit denen es sich gut auskommen ließ. Zum Entsetzen aller wurden wir allerdings am nächsten Tag oft unter wildem Protest kahlgeschoren.”

In der weiteren Folge beschreibt der Vater die harte Ausbildung, sowie die Verabreichung der gefürchteten Typhus-Impfungen, bei denen manche Kameraden aus Angst vor den überlangen Nadeln ohnmächtig wurden.

Es folgten Ausbildungen mit anstrengenden Märschen, Schießübungen in Kagran, Robben am Laaerberg und anschließendem Heimmarsch mit Gesang. “Unser Leutnant folgte uns meist mit der Straßenbahn, nachdem er ab und zu einen Kaffeeplausch eingelegt und gehorcht hatte, ob wir auch laut genug gesungen hätten. Die angenehmsten Exerzierübungen fanden in den Praterauen statt. Das Marschieren in Schwarmlinien durch die schönen Wälder war das reinste Vergnügen. Täglich lernten wir neue Marschlieder. Tatsächlich war das Exerzieren des 8000 Mann starken Bataillons, unterstützt von zwei Musikkapellen, ein imposantes Schauspiel, das von unzähligen Schaulustigen besucht wurde. Oberst Prokop kommandierte in höchst eigener Person vom hohen Ross aus.”




© Helmut Wigelbeyer 2024-12-08

Genres
Novels & Stories
Moods
Herausfordernd