Das vorletzte Wochenende in Wien

Niklas Sauerbrey

by Niklas Sauerbrey

Story
Wien 2022 – 2023

An meinem vorletzten Wochenende in Wien nahm ich mit meinem besten Freund Jonas LSD. Das letzte Mal hatte ich es im Sommer auf einem Festival genommen. Bevor ich überlegen konnte, warum ich es nehmen wollte, hatte ich die kleine rote Pille auf Jonas´ Küchentisch zerteilt. Ich schluckte das größere Stückchen. Nach einer halben Stunde fing es an, zu wirken. Mir wurde übel, meine Hände ganz feucht. Außerdem war es unfassbar kalt in Jonas´ Wohnung. Er sagte mir, dass die Außenwände früher Mal die Mauern eines Klosters gewesen waren, also entsprechend schlecht gedämmt. 
Ich bekam starke Halluzinationen. 
Am nächsten Tag ging ich 11 Uhr in ein Konzert. Die Wiener Symphoniker spielten die 3. Sinfonie von Johannes Brahms. Als ich auf dem Platz in der Loge saß, bekam ich einen Schweißausbruch. Ich konnte meine Beine kaum ausstrecken, weil die Sitzreihen sehr eng waren. Außerdem hatte ich gestern sehr viel geraucht, sodass ich Angst hatte, während des Konzertes einen Hustenanfall zu bekommen. Als das Orchester zu spielen begann, wurde ich ruhiger. Nach den ersten Takten, in denen das Thema erklang, fiel mir auf, dass ich – wieder Erwarten – diese Brahms-Sinfonie vor ein paar Monaten gehört hatte. Nicht in einem Konzert, sondern auf meinen billigen Amazon-Kopfhörern. Es war Anfang Dezember gewesen, als ich aus der Bibliothek nachhause fuhr und mich entschied, einen Spaziergang zu machen. Es war eine sehr schwarze und sehr kalt, schneelose Nacht. Ich lief an der Donau entlang und spielte die 3. Sinfonie ab von Brahms ab und lief, bis der 4. Satz vorbei war, und meine Finger blau.
Jetzt saß ich im Konzert und das LSD wirkte immer noch ein bisschen. Während die Sinfoniker spielten, dachte ich an die Donau, den Dezember, die Zeit, in der mein Abschied aus Wien noch in ferner Zukunft lag. 
Ich verstehe nichts von klassischer Musik. Es sind nur Gefühle, die ich in ihr hören kann. Manchmal ist sie eine Zuflucht. Manchmal ist sie ein Raum geben, in dem sich alles ausbreiten darf, allen voran die große, existentielle Unwissenheit über das Leben. Sie ist ein Bild mit tausend Schattierungen, nie wirklich greifbar, nicht zu beschreiben, kaum zu erklären. Wenn man über sie schreiben will, kann man sich ihnen stets nur annähern, in Metaphern oder Poesie. In der Sprache bekommen die Gefühle eine Form, in der Musik bleiben sie, was sie sind. Man spürt sie wieder, spürt sie anders. Gefühle fließen, wie es Melodien tun.
Das waren meine Gedanken, während ich dem Brahms-Konzert folgte. Warum hatte ich gestern das LSD genommen? Vielleicht, um eine Antwort zu finden? Um zu wissen, was ich mit diesen ganzen Erfahrungen, die ich in meinem Erasmus-Semester in Wien gemacht hatte, anfangen sollte? Ich hatte sehr viel erlebt. Ich dachte an gestern Abend, wie ich mit Jonas fünf Stunden in seiner kalten Wohnung gesessen und über alles geredet hatte und wir am Ende immer wieder auf das vierte Album von Kendrick Lamar zurückkamen. Ich sah ihn mit seinem Egon-Schiele-Körper auf der Couch sitzen. Ich sah uns durch die verlassenen Straßen ziehen, und später auf der Abschiedsparty von Matilda. Ich sah uns tanzen, die Pupillen groß und schwarz. Ich spürte wieder Matildas Hände auf meinem Rücken, als wir uns verabschiedeten. Ich wusste, dass ich ihr mehr bedeutete, als sie mir. Alles kam mir unheimlich bedeutungsvoll vor. 

© Niklas Sauerbrey 2023-08-30

Genres
Novels & Stories
Moods
Dunkel, Emotional, Hoffnungsvoll, Reflektierend
Hashtags