Ich vermute, dass die meisten Menschen nicht wissen, was ihr Name bedeutet. Vielleicht erfahren sie es irgendwann – oder auch nie. Dennoch sind Taufnamen Teil unserer Identität. Ich heiße Sonja Margarete. Weisheit und Perle. Die „Perle“ verdanke ich meiner Tante, die meine Taufpatin war, meine Godl. So sagte die Oma, die ich noch im Ohr hab’.
„Sonja“ war Vatis Wahl. Laut Aussagen meiner Mutter schwärmte er für die norwegische Eiskunstläuferin Sonja Henie, die sich in Hollywood als Queen of Ice einen Namen machte und Mitte der 1950er-Jahre auf dem Höhepunkt ihrer Karriere war. Mit Eislaufen habe ich nichts am Hut, wohl aber bin ich, ohne je eingebrochen zu sein, zuweilen auf dünnem Eis dahingeschlittert.
Es war der Pfarrer Wetzlmayr, der mich über meinen Vornamen aufklärte. Er sorgte sich um seine Schäfchen und stattete meinen Großeltern, die brave Kirchgeher waren, in regelmäßigen Abständen einen Besuch ab. Oma tischte reichlich auf, kredenzte ihm Schwarzbrot, Speck aus der Selchkammer und eingelegte Gurken. Opa zapfte selbstgemachten Most aus dem Fass ab.
Einmal trafen Hochwürden und ich vor dem Gartentor zusammen. Er strich mir übers Haar und sagte: Sonja ist ein schöner Name. Weißt du, was er bedeutet? Ich schüttelte den Kopf. “Sonja” ist russisch für griechisch Sophia, sagte er, das heißt „Weisheit“. Sprach’s, schwang sich aufs Fahrrad und radelte davon. Die 6-Jährige, die ich damals war, prägte sich das ein und war mächtig stolz auf diesen Namen. In der Klasse gab es viele, die Brigitte, Helga und Eva hießen, aber mein Name blieb die ganze Schulzeit über einzigartig.
Mit dem Wissen, was „Sonja“ bedeutet, übernahm ich eine schwierige Aufgabe.Ich war überzeugt, Weisheit sei bei alten Menschen zu finden, aber meine Großeltern waren den ganzen lieben Tag beschäftigt und hatten keine Zeit zum Nachdenken, und von meiner Mutter kamen auch selten Antworten auf meine Fragen. Ich jedoch wollte meinem Namen alle Ehre machen, und daher wurde ich eine brave Schülerin. Denn ich vermutete einen Zusammenhang zwischen Weisheit und Wissen. So las ich alles, was mir unter die Finger kam.
Ich suchte in den Märchen nach Weisheit. Ich hielt die Frau Holle für weise, weil sie die fleißige Goldmarie belohnt und die faule Pechmarie bestraft. Also wurde ich ein fleißiges Mädchen. Dem Märchenalter entwachsen, hielt der Kleine Prinz eine weitere Botschaft für mich bereit: Man sieht nur mit dem Herzen gut. Wieder zogen Jahre ins Land. Ich sammelte Sinnsprüche, Zitate, Weisheiten, klebte ein A4-Heft voll, das ich heute noch habe.
Dichter und Schriftsteller müssten sie besitzen, die Weisheit. Also las ich und lebte neben meinem Leben viele andere Leben. Unzählige Romanfiguren zogen bei mir ein und aus.
Irgendwann dämmerte mir, dass sich Weisheit nicht erlernen lässt, sondern auf Lebenserfahrung beruht. Dem Lauschen auf die innere Stimme. Und Vertrauen. Denn der wahre Lehrmeister ist das Leben selbst.
© Sonja M. Winkler 2020-10-07