Denn meine Hand war feucht …

Alina Linde

by Alina Linde

Story

Daheim angekommen hatte Marina rasch ihre Tasche in ihre Ecke gestellt (zu der nur sie ‚Zutritt’ hatte), hatte für sich und ihren Freund ein Abendbrot zusammen-geschachtelt und war schließlich zu Kolja an den Tisch getreten, eine kleine Pyramide aus Tellern, Brotscheiben, Margarine und Aufschnitt balancierend. „Bist du mit deiner Arbeit weitergekommen?“ „Ja, nein …“ „Ich sehe schon – du hast wieder Wichtigeres zu tun gehabt.“ Die rasch von allerhand geräumte Tischfläche mit Tellern füllen. „Wenn du mit deiner Arbeit fertig bist – das Resümee übersetze ich dir.“ „Danke.“ Abendessen. Brotscheiben, mit irgendetwas Geschmackgebendem gefüllt und in geöffneten und sich schließenden Mündern verschwindend. „Du bist heute wieder spät dran, Mara.“ „Ich weiß.“ Stille, nur die späten Geräusche von der Straße. „Du musst nicht mehr eifersüchtig sein, Kolja. Vytautas und ich haben vereinbart, uns nicht mehr zu treffen. Ist besser so. Nicht?“ Das Abendessen beenden. Scheinbar routinierte Handgriffe; die Teller, Besteck und nicht Aufgebrauchtes zusammenzustellen – eine kleiner gewordene Pyramide. „Kannst du aufräumen? Ich bin müde, war etwas viel der Tag.“ Marina hatte sich schlafen gelegt, den Kopf zur Wand hin, den Rücken Kolja zugewandt, läge er schon neben ihr. Irgendwann später war er zu ihr gekommen, hatte sich neben sie auf das Bett gesetzt, mit der Hand ihr Haar berührt, Haare, Schultern. Aber Marina hatte sich nicht zu ihm auf den Rücken gedreht, wie sie es sonst fast instinktiv auch noch im Halbschlaf machte. Und als Kolja sich neben sie legte, war sie fast schlafwandlerisch aufgestanden, über ihren Freund hinweg gestiegen und hatte sich in den freien Raum zwischen dem Türrahmen gekauert – ihre Hände über die angewinkelten Knie gelegt und den Kopf auf jene. So als suchte sie Halt in ihrer Ungeborgenheit. Da war Kolja zu ihr getreten, hilflos in Anbetracht dieser ihm plötzlich so völlig unbekannten Freundin. Hatte sich behutsam neben sie gesetzt und ihr unsicher, ja fast ängstlich und schüchtern ihre Trauer aus den Augen gestrichen. „Ist schon gut, Marinka.“ …

Am nächsten Morgen war schon wieder so etwas wie Normalität gewesen. Marina hatte die Prüfung fast mit Bestpunktzahl bestanden, und Kolja war ihr gegenüber so ungewohnt zuvorkommend und verständnisvoll gewesen, als hätte er sich ganz von Neuem in seine Freundin verliebt. Eine Woche lang. Doch dann war auch in dieser Sache wieder Normalität eingekehrt. Und alles war so gewesen, als hätte es diesen Vytautas niemals gegeben. Fast alles. Nur der Klang seiner Lieder hatte in Marina geschrien und von einer Liebe erzählt, die nicht vergessen werden konnte. Aber mit der Zeit war auch dies schwächer und schwächer geworden oder überdeckt von anderen Gedanken. Irgendwann hätten Marina und Vytautas sich wieder begegnen können: dort, hoch oben über dem leicht gewundenen Bogen des Njemen zu ihren Füßen, anderswo … Aber ihre Blicke wären in entgegengesetzte Richtungen gewandert. Nicht weil sie einander fremd geworden wären, sondern näher und näher …


© Alina Linde 2025-01-10

Genres
Novels & Stories
Moods
Dunkel, Emotional
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