by Julius Teder
Es gab natürlich Häuser, zu denen ich lieber kam als zu anderen. Und kann man mir denn verübeln, dass ich mich freute, wenn die Trint’s einen Brief bekamen, bei denen immer die Kinder im Garten spielten und mich so nett und stürmisch begrüßten – während andererseits der Tag für mich gelaufen war, wenn ich morgens sah, dass Ms Billing, deren dreckige Misttöle mich seit fünf Jahren ankläffte, egal, was ich auch tat, um sie ruhigzustellen, mal wieder ein Päckchen bekam? Noch schlimmer war aber der verzogene Danny Rickson, der von seinem regelmäßig Geld geschickt bekam und mich stets verdächtigte, ihn bestohlen zu haben – einmal ging eine seiner Beschwerden bis zur höchsten Stelle, und ich hätte fast meinen Job verloren. Viel besser gefiel mir da natürlich der reiche Mr Cranston, der, glaube ich, schon alt gewesen war, als ich noch zur Schule ging, und der jeden zweiten Morgen zuverlässig einen Brief von seiner Urenkelin bekam; da er fast blind war, bat er mich stets zu einem Kaffee in seine Villa; nur um mich dann, wenn wir am Tisch saßen, jedes Mal aufs Neue zu fragen, ob ich ihm den Brief nicht vorlesen wolle, nun, da ich ohnehin schon mal hier wäre.
Es gab einige dieser besonderen Häuser, die aus der Menge jener hervorstachen, über die ich nicht das Geringste berichten könnte. Das auffälligste Haus war aber das Morton-Haus, das seit vierzig Jahren verlassen war; seit Harry Morton, der damals mit mir zur Schule ging, von einem auf den anderen Tag verschwand, woraufhin seine arme, kranke Mutter vor Kummer starb. Da man nicht wissen konnte, wo Harry war, ob er tot war oder noch lebte, so blieb das Haus offiziell in seinem Besitz; und im Laufe der Jahre verfiel es immer mehr. Natürlich gab es darüber die typischen Gruselgeschichten von Gespenstern und Mördern; und diese Geschichten, die ich nie ernstgenommen hatte, kamen mir alle auf einen Schlag ins Bewusstsein, als ich eines Morgens die Briefe des Tages ordnete und einen Brief fand, der eben das Morton-Haus adressiert war, gesendet von Harry Morton persönlich, an seine liebe Mutter.
Mit zitternden Händen saß ich eine Weile in der Stube. Die Sache kam mir falsch vor – zwar war Harry verschwunden, bevor seine Mutter starb, aber doch war sie ja damals schon krank gewesen, und seitdem war eine halbe Ewigkeit vergangen. Glaubte er denn wirklich, dass sie noch lebte?
Kurzum, meine Neugier siegte endlich, auch wenn ich ein schlechtes Gewissen hatte. Natürlich kannte ich alle Möglichkeiten, einen Brief zu öffnen, ohne Spuren zu hinterlassen; bald hatte ich den Bogen in den Händen. Darauf stand:
„Komme nächsten Donnerstag, 20., mit Garry. Er ahnt nichts. Treffpunkt Mitternacht, im Keller, letzte TĂĽr links, da hört uns niemand. Bring Schaufel und Spaten mit! – Morton.“
© Julius Teder 2024-08-01