by Irene Werren
“… zu bunt, um grau zu sein”; heiĂt es auf der Website. Das macht neugierig, und die Speisekarte lĂ€sst einen das Wasser im Mund zusammenlaufen.
Schnell eine Bekannte gefragt – und los gehts. Der bunte Hund liegt am Aarebecken beim MĂŒhleplatz in Thun. Es ist ein Integrations-Projekt fĂŒr und von Menschen mit einer Behinderung.
An diesem Donnerstagabend sind wir die einzigen GĂ€ste. Wir werden von einem jungen Mann mit einem strahlenden LĂ€cheln begrĂŒĂt und in den ersten Stock begleitet. Wir sind sofort per Du. Am Tisch wartet eine bunte Speisekarte darauf, gelesen zu werden.
Nach einer umfangreichen Bestellung kommen wir ins Reden und philosophieren. Der bunte Salat kommt, schön dekoriert. Meine Bekannte erzĂ€hlt und erzĂ€hlt, ich nicke und esse. Ich bin folglich frĂŒher fertig als sie. Der junge Mann bringt die beiden Hauptgerichte, stellt die bunten Teller auf dem Nebentisch ab und bemerkt zu meiner Bekannten: “Deine Kollegin ist mit dem Salat lĂ€ngst fertig. Wahrscheinlich sprichst du einfach zu viel!” Ich muss mir das Lachen verkneifen. Sie, etwas verlegen:”Nein nein, das ist nicht so. Sie isst vielleicht schneller als ich.”
Ich: “Doch, doch, der junge Mann hat recht. Du sprichst eindeutig mehr als ich.” Wir prusten los.
Zufrieden zieht der junge Mann von dannen, um gleich darauf mit einem Kollegen im Schlepptau aufzutauchen, der Freude daran hat, die an langen SchnĂŒren aufgehĂ€ngten Lampen hin und her zu schwenken. Der andere Bursche reagiert sofort und zieht den selig lĂ€chelnden Kollegen mit sich weg, bevor er einen gröĂeren Schaden anrichten kann.
WĂ€hrend wir essen, taucht alle paar Minuten ein weiterer Mitarbeiter auf und fragt, ob alles in Ordnung sei.
Wir nicken jedes Mal und vertiefen uns wieder ins GesprĂ€ch. Bei der vierten Nachfrage innerhalb zehn Minuten schaue ich ihn wohl etwas zu irritiert an, denn er erwidert entschuldigend: “weiĂt du, unserem Chef ist es wichtig, dass die GĂ€ste zufrieden sind. Deshalb mĂŒssen wir leider so oft nachfragen.” Das leuchtet auch uns ein und so bestellen wir noch einen Kaffee.
Ich bestelle einen Cappuccino mit laktosefreier Milch. Der junge Mann sieht mich hilflos an. “Meinst du koffeinfreien Kaffee?”-“Nein, hast du keine laktosefreie Milch?”-” Ich habe Reismilch im Angebot, die ist ja auch laktosefrei.”- Huch, das schĂŒttelt mich. “Eh nein, dann bring mir bitte einen ganz normalen Cappuccino.”
“Normal, heiĂt das mit Coffein?”
Ich nicke zustimmend. “Ja, normalen Kaffee mit Coffein.”
Dann komme ich ins GrĂŒbeln. Normal-was heiĂt das eigentlich genau? Ist etwas normal, weil es den meisten Menschen so entspricht, weil ihr Denken, FĂŒhlen und Handeln so genormt ist? Hat es darum mehr DaseinsbeRechtigung als das des anderen, das ungenormte, ungeschliffene, aber umso ĂŒberraschendere Denkmuster?
Wenn wir doch beide Welten, eine eher grau, die andere voll bunt, ineinanderflieĂen lassen, dann wird unser aller Leben bunter, und lustiger.
Einen Versuch ist es wert.
© Irene Werren 2025-04-26