by Mia Caron
Als ich klein war, hatte ich Opa und Oma. Meine anderen Großeltern kannte ich dagegen kaum. Ich erinnere mich nur an die Pakete, die mein Vater immer nach Italien verschickte. Das ist eine der Parallelen, die ich mit vielen Ausländern gemein habe, seien es Asylbewerber, Gastarbeiter oder Illegale: Alle wollen ihren Familien zuhause helfen, sie teilhaben lassen an dem, was man hier bekommt.
Mein Vater kam an Silvester 1962-63 am Bahnhof in Meschede an.
Mein Großvater hatte einen Anschlag im Rathaus in Arce/Prov. Frosinone gelesen. Dort hingen Angebote aus, eins davon war die Suche nach Arbeitern in einem Sägewerk in Germania.
Mein Opa fuhr also nach Deutschland und ein halbes Jahr später kam er zurück und holte meine Oma nach. Mein Vater hatte gerade die fünfte Klasse abgeschlossen und war in der sechsten. Er lernte Altgriechisch. Sein Vater fragte ihn – wie Männer halt so sind, mit vielen Worten und blumigen Erklärungen: Willst du weiter Schule machen oder mit nach Deutschland? Mein Vater verstand nicht, was Deutschland war, aber alles schien besser zu sein, als in der doofen Schule zu sitzen. Also stand er Silvester 1962 in Meschede am Bahnhof und der erste Eindruck, den er von Deutschland hatte, war: Kälte. Nie zuvor hat er in seinem Leben Schnee gesehen, nie so gefroren. Eine Winterjacke kannte er nicht, besaß er nicht. Genausowenig wie lange Unterhosen oder Strümpfe.
Betrunkene, gröhlende Männer, die aus der Bahnhofskneipe gewankt kamen um Raketen anzuzünden, waren der nächste Kulturschock. Dass es auch damals schon Schulpflicht in Deutschland gab, schien niemanden zu interessieren. Er begann, auf dem Sägewerk zu arbeiten. Alles war fremd, die Menschen waren anders, die Sprache und selbst die Natur. Alles. Dennoch hat er damals beschlossen, nie wieder zurückzugehen.
Als ich klein war, wusste ich nichts von den Schwierigkeiten einer gemischt-nationalen Beziehung. Ein Italiener – mit einem von “unseren” Mädchen. Das durfte es nicht geben. Der Vater meiner Mutter war, genauso wie meine Oma, liberal. Mein Opa mochte ihn. Ich erinnere mich nicht daran, dass dieser sich irgendwann mal negativ über ihn geäußert oder sie sich gestritten hätten. Er war Familie, basta. Mein Vater aber, trägt bis heute die Narben der damaligen Ablehnung auf der Seele. Damals hat er sich sehr bemüht, vor allem für seine kleine Tochter, damit sie die Ablehnung nicht auch irgendwann zu spüren bekäme. Er trinkt kein Bier, ging trotzdem in die Dorfkneipe. Aber sie ließen ihn nicht hinein. Heute ist es anders. Als Rentner plauschen sie gern mal mit ihm, kommen vorbei, bitten ihn um Hilfe, fragen um Rat. Samstags wäscht er sein Auto, alle zwei Wochen wird der Rasen gemäht, gefegt und das Unkraut gezupft. Die Gartenzwerge stehen in Reih und Glied. Aber er erinnert sich sehr gut. Und manchmal macht er eine Bemerkung, dann bricht die Verletzung auf und er sagt: Jetzt kommt er an und will was von mir, aber vor vierzig Jahren… da war ich bloß der dumme Italiener.
© Mia Caron 2019-04-11