Seit ich denken kann, haben meine Großeltern einen Schrebergarten im Herzen Wiens bewirtschaftet. Die Arbeit war klar aufgeteilt: Mein Großvater kultivierte die Gemüsepflanzen und die Obstbäume (einen Apfel- und einen Zwetschgenbaum), während meine Großmutter sich um die Ästhetik des Gartens kümmerte. Jeden Herbst bettet sie mehrere hundert Tulpenknollen in die Erde; ein kleiner Steingarten war der Blickfang des Gartens, zwischen April und Juni kontrastierten die unterschiedlichen Grautöne üppig blühenden Enzian. Bei allem Sinn für Schönheit nahm sie immer Rücksicht auf die Bedürfnisse der Pflanzen. Wenn etwa ein Rosenbusch in eine Richtung wuchs, die nicht ins Bild passen wollte, hielt meine Großmutter ihn nicht auf.
Als ich ein Kind war, spazierten meine Großmutter und ich regelmäßig durch die riesige Schrebergartenanlage. Wir spähten in die Gärten der anderen und suchten nach neuen Ideen. Von den Nachbarinnen und Nachbarn, die da waren, wurden unsere Erkundungsgänge sehr unterschiedlich aufgenommen. Manche verwickelten uns in ein Gespräch und ab und zu bekam ich sogar einen Pfirsich oder eine Handvoll Kirschen. Andere lugten bloß argwöhnisch aus ihrer Pergola hervor und murmelten einen unverständlichen Gruß.
Einer der Gärten faszinierte mich besonders. Er war absolut symmetrisch. Eine Reihe akkurat gerundeter Buchsbäumchen rahmte den Garten, nur am Eingang waren sie zu zylindrischen Türmchen getrimmt. Von wohlgeformten Lavendelbüschen gesäumte weiße Kacheln führten zur Pergola und dem kleinen, ebenfalls weißen Holzhäuschen. Auf dem fußballfeldfeinen Rasen standen, genau mittig auf beiden Seiten, zwei kugelförmige Kirschbäume, die im Frühsommer knallrot leuchteten, doch nie lag auch nur eine Frucht am Boden. Wem der Garten gehörte, wussten wir nicht; es schien nie jemand da zu sein. Bei jedem unserer Spaziergänge blieb ich genau vor den weißen Kacheln stehen und bewunderte die einfache Eleganz dieses Gartens, doch meine Großmutter schüttelte nur den Kopf und sagte: »Hier hat die Natur keinen Platz zum Atmen.«
Heute bin ich erwachsen und meine Großmutter lebt nicht mehr. Ab und zu noch spaziere ich durch die Anlage und denke gerne an die Zeit zurück. Noch immer grüßen manche Leute freundlich während andere einen bloß skeptisch und geduckt beäugen. Der einst so skrupulöse Garten ist heute verwildert. Brennnesseln und Disteln wuchern kniehoch, einer der Kirschbäume ist abgestorben. Heute verstehe ich, was meine Großmutter damals meinte. Der Garten vibriert vor Leben. Bienen und Hummeln surren eilig von Blüte zu Blüte, Grillen fiedeln ihre Liebeslieder und Schmetterlinge tanzen dazu. Ich sehe Bläulinge, Kaisermantel und Admirale. Ein kleiner Zimtbär landet mit seinen knallroten Beinchen auf meinem T-Shirt. Er sieht mich an, als wollte er mich einladen, mit ihm und seinen Freunden das Leben zu feiern.
© Yannick F. Piwetz 2022-08-29