Der Glückssammler II

“Wissen Sie, ich werde Ihnen eine Geschichte erzählen über einen jungen Mann, der alles verloren hatte, was ihm lieb war. Seine Familie, seine Arbeit, seine Lebensfreude und letztendlich auch seine Identität, denn als er obdachlos wurde, begann er zu trinken, um zu vergessen, was ihm aber nicht gelang. Jeden Tag wuchsen seine Selbstzweifel und die Wut darüber, was andere ihm angetan hatten. Er fürchtete sich vor sich selbst und seinen Dämonen, die ihn täglich und vor allem in der Nacht heimsuchten. Die ihn nicht schlafen ließen und seine Seele immer wieder aufs neue herausforderten. Die Anteile, die er niemals hatte ans Tageslicht kommen lassen, seine Schatten, dunkle Gestalten, die in Form von Gier, Triebhaftigkeit und Zügellosigkeit über ihn herfielen. Gestalten, denen er niemals ein Gesicht verlieh, aus Angst ihnen im wirklichen Leben zu begegnen”. Die Frau hörte aufmerksam zu und sagte leise zu dem Mann” Warum erzählen Sie mir eine solch traurige Geschichte, wenn Sie mich doch eigentlich aufmuntern wollen” ? Der Fremde schwieg, schaute in die Ferne und fuhr fort zu erzählen. “Der Mann ertrug den Zustand der Hoffnungslosigkeit nicht mehr. Er war an seine Grenzen gelangt und wankte eines Tages betrunken an das nahegelegene Flussufer, schaute hinauf zur Brücke und dachte darüber nach, wie es wohl wäre, wenn er dort hinunterspringen und alles hinter sich lassen würde. Niemand würde ihn vermissen und doch hatte er einen seltsamen Gedanken, der ihn nicht mehr losließ. Wenn die Seele wirklich körperlos ist, wohin geht sie dann, wenn der physische Körper nicht mehr existiert? Wer bin ich eigentlich? Bin ich Seele, bin ich Körper oder beides? Wenn ich also den Körper von meiner Seele trenne, bleibt sie dann zwangsläufig existent? So könnte ich ja niemals vor mir oder dem Leben davonlaufen, dachte er. Diese Erkenntnis erschütterte ihn so sehr, dass er sich hinsetzen musste und schon bald vor Erschöpfung in einen tiefen Schlaf fiel. Die Frau saß noch immer unbeweglich da und lauschte, obwohl der Mann längst verstummt war. “Wie geht die Geschichte weiter?”, fragte sie vorsichtig und betrachtete ihn neugierig von der Seite. Der Mann stand plötzlich und unvermittelt auf und sagte” Ich werde Morgen um diese Zeit wieder hier sein. Wenn Sie wissen möchten, wie die Geschichte weitergeht, dann treffen wir uns Morgen zur gleichen Zeit am gleichen Ort “. Die Frau schaute dem Mann irritiert hinterher, stand einige Zeit später ebenfalls auf, ging in die entgegengesetzte Richtung und verschwand wie der Mann in der Abenddämmerung. Niemand weiß, ob die beiden sich jemals wiedergetroffen haben, denn Olga hatte den Zeitpunkt am nächsten Tag verpasst, doch sie war sicher, dass der alte Herr und der junge Mann ein und dieselbe Person waren. Sie dachte lange über diese Geschichte nach, die sie unfreiwillig mitangehört hatte und in ihrer Fantasie zauberte ihr Kopfkino die wunderbarsten Wendungen zutage. Vielleicht kramte die Frau nun auch in ihrer Vergangenheit, um Glücksmomente zu suchen, die ihren Alltag erhellen konnten. Vielleicht stellte sie sich auch Fragen, die ihr sonst nie in den Sinn gekommen wären. In jedem Fall ist eine zufällige Begegnung niemals unbedeutend und war sie noch so kurz.