Der Käsebaum

Ulrike Nikolai

by Ulrike Nikolai

Story
2024

Dieser kleine noch nicht ausgewachsene Finger! Zielgenau piekst er in die Luft. Genau auf unseren Kirschbaum zu, der majestätisch wie ein König mitten im Garten steht. “Käääse!”, ruft der kleine Mund, der zu dem kleinen Finger gehört. “Kääse!” Ich schaue ihn fragend an, den kleinen Timo, den Dreikäsehoch, der sofort an unseren gemeinsamen Gartenzaun gerannt kommt, wenn er mich sieht. Er ist noch keine drei Jahre alt.

Als Ende Juni die Kirschen reif waren, fragte ich seine Mama, ob ich ihm welche geben dürfe. “Kein Problem”, sagte sie, “er weiß schon, wie man Kirschen isst.” Also pflückte ich eine Kirsche nach der anderen und reichte sie ihm durch den Zaun. Nein, er nahm sie nicht einfach in den Mund. Er biss die Hälfte ab. Sein Sweatshirt wurde kreativ gemustert. Der Saft war ihm am Kinn herabgelaufen und von dort aufs Shirt getropft. Mit seinen kleinen Fingern pulte er dann den Kern heraus, ließ ihn sorgfältig auf den Boden fallen, indem er auf seine Füße achtete. “Weg. Da!” Natürlich geschah das alles nicht ohne Beobachtung. Thore war es, der nun neugierig über den Rasen auf den Zaun zugekrabbelt kam. Auf allen Vieren und barfüßig-barbeinig. Mit dickem Windelpopo, denn Thore ist noch kein Jahr alt. Aber schnell ist er! Ratzfatz war er am Zaun, zog sich hoch und strahlte. Ihm konnte ich natürlich noch keine Kirsche geben. Also war Timo wieder dran. Aber ob er seinem kleinen Bruder die zweite entkernte Kirschenhälfte geben würde? Es war mir noch zu riskant. Also ging ich nach drinnen und holte ein Messerchen. Damit teilte ich die Kirschen je in zwei Hälften und reichte sie so durch den Zaun.

“Eine Hälfte für dich, Timo, die andere für Thore, ja?”

Timo nickte. Steckte die eine Hälfte in den Mund. Die andere auch, aber nicht ganz. Er biss die Hälfte davon ab und reichte Thore ein Viertel der Kirsche. Hm … drei Jahre … ein Jahr … drei Viertel, ein Viertel. Kindliche Mathematik – so genial! Innerlich prustete ich los. Es war Berechnung. Eine ganz natürliche und tolle Berechnung! Besser könnte ich Bruchrechnung auch nicht vermitteln. So setzten wir das Spielchen eine Weile fort. Beide waren zufrieden. Nein, wir alle drei. 100%! Als Mama kam, zog ich die Augenbrauen hoch. “Timo hat sein ganzes Shirt vollgekleckert. Ob das wieder rausgeht?”, bemerkte ich mit Bedauern. Sie ist eine praktisch denkende Mama: “Ach, das macht nichts, das ist sein Gartenshirt. Draußen ziehe ich den beiden nicht so gute Sachen an. Die machen sich ja eh schmutzig.”

Anfang August …

“Käääse!” Timos Finger piekst in den Kirschbaum. “Ach so”, schlussfolgere ich, “du möchtest eine Kirsche. Sag mal KIRSCHE.” Timo: “Käse!” Ich denke, dass er es halt immer noch nicht richtig aussprechen kann. “Kirschen gibt es nicht mehr. Die Vögel haben alle aufgefressen.” – “Käse!” Und wieder piekst der Finger zielgenau auf einen Punkt. Doch ich folge ihm nicht. Erst abends, als ich auf der Terrasse sitze, schaue ich in meditativer Stimmung zum Kirschbaum hin und entdecke ihn. Den KÄSE! Die Sonne brachte ihn zum Leuchten, den GELBEN KÄSE!

© Ulrike Nikolai 2024-08-05

Genres
Humor & Satire
Moods
Komisch, Unbeschwert
Hashtags