Mein Wecker klingelte frühmorgens. Langsam quälte ich mich aus meinem Bett, schlürfte aus meinem Schlafzimmer in Richtung Bad. Als ich dann vor dem Spiegel stand, starrte mich eine Gestalt an, die ich nicht kannte. Dunkle Augenringe verzierten mein Gesicht, die Haut war blass und die Haare struppig. Ich schaute schnell weg. Nach einigen Minuten des vor sich hin Grübelns ging ich zu meinem Schrank und schaute, ob ich mein Aussehen vielleicht mit etwas Buntem aufbessern konnte, was eigentlich egal war, da ich im Krankenhaus ohnehin die weiße, sterile Arbeitskleidung anziehen muss. Während ich in meine fliederfarbene Hose schlüpfte und mich für die Arbeit fertig machte, dachte ich über den gestrigen Arbeitstag nach, oder viel mehr über einen bestimmten Patienten.
Er war schon seit Monaten bei uns. Ein Schlaganfall war es, der den knapp 50-jährigen, muskulösen, aktiven und lebensfrohen Mann in die Knie zwang. Er lag in seinem Bett und starrte die Decke an. Das Funkeln in seinen Augen war schon lange verschwunden und blitze nur in den seltenen Augenblicken, in denen er über sein Leben erzählte, wieder auf.
Jeden Tag nahm ich mir die Zeit, mich nach Dienstschluss zu ihm zu setzten und ihn erzählen zu lassen. Ich hörte im verträumt zu, wie er davon erzählte, dass er letztes Jahr mit seiner Frau Fallschirmspringen war und was für ein befreiendes Gefühl es doch gewesen war, über den Wäldern zu schweben. Dich seit dem Schlaganfall konnte er nicht einmal mehr selbstständig stehen. Den Traum, einmal einen kompletten Marathon zu laufen, hatte er aufgegeben. Seine Frau habe ich nur ein paar Mal gesehen. Als ich fragten, warum sie nicht mehr kam, meinte er nur, sie habe viel auf der Arbeit zu tun. Doch an seinen Augen konnte ich erkennen, dass es mehr war. Ich sah seinen Schmerz und seine Traurigkeit. Ich sah auch den Hoffnungsschimmer, der verschwand, wenn ich den Raum betrat, weil ich wusste, dass er auf sie wartete. Doch sie kam nicht. Zuerst besuchte sie ihn täglich, dann nur noch zweimal die Woche und jetzt gar nicht mehr und ich war es, die ihm dabei zusah, wie er sich von Tag zu Tag mehr aufgab.
Ich ging aus dem Haus und schloss die Tür hinter mir ab. Er würde nicht mehr warten, er würde sich nie wieder mit seiner Frau vertragen, seine Ehe nie wieder aufleben lassen können. Er würde keinen Marathon laufen und die Wälder nicht mehr aus der Sicht eines Vogels sehen können. Verdammt er wollte noch so viel machen, so viel erleben. Doch er hatte ausgegeben, sein letzter Ausflug wird der Friedhof um die Ecke sein, wo man ihn beisetzten wird.
© Dariya Dulyba 2024-07-07