Der Mann aus Glas

Marina Machacek

by Marina Machacek

Story

An den, der durch andere hindurchschaut,

ich möchte dir von einem Mann erzählen, dem man durch die Haut hindurch die Erinnerungen ansehen konnte.

Er war aus Glas.
Nicht aus echtem Glas, nicht aus Fensterscheiben oder Spiegeln, sondern aus einem Stoff, der durchsichtig war wie Schuld.
Wenn du ihn ansahst, konntest du alles erkennen: wie sein Herz schneller schlug, wenn er Angst hatte, wie sein Atem stockte, wenn ein Gedanke kam, den er lieber vergessen hätte.
Es gab keinen Schutz.
Keine Maske.
Keine Lüge.

Er lebte allein, natürlich.
Nicht, weil er es wollte – sondern weil die Menschen sich vor dem spiegelten, was sie in ihm sahen.
Sie warfen Steine.
Nicht, um ihn zu zerstören.
Sondern um sich selbst darin nicht mehr erkennen zu müssen.

Ich begegnete ihm zufällig.
Er stand an einem Brunnen, der längst kein Wasser mehr führte, und betrachtete sein eigenes Spiegelbild im ausgetrockneten Becken.
Ich fragte ihn, ob er traurig sei.

Er antwortete:
„Nicht mehr. Traurig war ich, als ich noch dachte, ich wäre sichtbar.“

Ich blieb.
Vielleicht, weil ich selbst durchsichtig geworden war in dieser Welt, ohne es zu merken.
Wir sprachen nicht viel.
Aber wenn er schwieg, war es das ehrlichste Schweigen, das ich je gehört habe.

Er zeigte mir einen Ort, an dem er Briefe sammelte.
Nicht geschriebene, sondern gedachte.
Er nannte sie Glassätze – Dinge, die nie ausgesprochen wurden, aber durch die Haut hindurch hörbar waren, wenn man zuhörte. „Menschen denken immer, Wahrheit sei etwas, das man sagen muss“, sagte er. „Aber sie lebt oft dort, wo niemand hinsieht.“

Am dritten Tag, als ich zurückkehrte, war er nicht mehr da.
Nur ein gläserner Abdruck seiner Hände im Sand – als hätte er sich langsam aufgelöst.
Und neben dem Abdruck lag ein Brief.

Kein Name.
Kein Datum.
Nur ein einziger, klarer Satz:

„Ich war nie durchsichtig.
Ihr wart nur nie bereit, hinzusehen.“

Ich hängte diesen Brief an den Baum, obwohl er schwer war.
Nicht vom Gewicht des Papiers.
Sondern vom Gewicht der Wahrheit.

Wenn du ihn findest – halte ihn gegen das Licht.
Vielleicht erkennst du dein eigenes Gesicht darin.

Für dich,
die, die nicht weggesehen hat

© Marina Machacek 2025-04-25

Genres
Novels & Stories