by OlgaFlora
In dem Jahr hatte ich mir den Puppenwagen gewünscht. Ein Prachtstück, wie ein echter Kinderwagen, mit Gummireifen und chromglänzenden Speichen. Ich hatte ihn in einer Auslage gesehen und mich sofort verliebt. Damit das Christkind nichts verwechselte, fertigte ich eine naturgetreue Zeichnung an und legte sie ins Fenster.
Am Heiligen Abend, der Tisch war schon festlich für zwölf Personen gedeckt, meine Geschwister übten seit Stunden die immer gleichen Lieder auf der Flöte und ich steckte in meinem neuen Spitzenkleid und blütenweißer Strumpfhose, setzte mich Mama auf das Sofa, drückte mir ein Bilderbuch in die Hand und sagte: “Sei schön brav, du weißt ja, das Christkind sieht alles.” Dann verschwand sie im Schlafzimmer, um sich hübsch zu machen. Bald wurde mir schrecklich langweilig, das Buch kannte ich auswendig und außerdem sollte ich ja brav sein, was nichts anderes bedeutete, als sich nützlich zu machen statt untätig herumzusitzen.
Ich ging also in die Küche. Auf dem Tisch lag ein dickes Buch, das ich kannte. Meine ältere Schwester benutzte es immer, wenn sie kochen wollte. Es gab darin viele Fotos, die die Zubereitung der Rezepte Schritt für Schritt beschrieben. Ich hatte mit meiner Schwester, obwohl ich nicht lesen konnte, schon oft gekocht und kannte mich aus.
Mir kam eine großartige Idee. Den ganzen Tag über hatte Mama geklagt, wie viel Arbeit es machte, für zwölf Leute zu kochen und dass sie immer alles alleine machen musste. Ich würde ihr helfen und eine Creme zaubern. Wie das ging, war im Buch abgebildet. Man brauchte Zucker, Eier, Butter und – ganz wichtig – Kakaopulver. Alles kein Problem , auch die Schüsseln und den Mixer fand ich gleich, Mama würde stolz auf mich sein. Ich war gerade dabei, den Inhalt der Kakaopackung in die Schüssel mit der Zucker-Eier-Masse zu leeren, als mich ein ohrenbetäubender Schrei aufschreckte. “ Nein! Es reicht!” Dass die sich überschlagende kreischende Stimme zu meiner lieben Mama gehörte, erkannte ich erst an der Hand, die mich packte und aus der Küche schliff.
Das Christkind kam trotzdem, aber nur zu meinen Geschwistern, behauptete Mama. Während die anderen sangen und flöteten von der Stielenacht, stand ich, in geflickter Strumpfhose und einem alten Pullover, ein wenig abseits und stellte fest, dass unter dem Christbaum wirklich kein Puppenwagen war. Dabei hatte ich doch nur brav sein und helfen wollen. Immer wieder trafen mich die bösen Blickpfeile meiner Eltern und sogar meine gutmütige Oma runzelte die Stirn. Ich wich noch weiter zur Seite , als mir in der schmalen Ecke neben dem Schrank etwas Unförmiges, von einem alten Vorhang Bedecktes, auffiel, das am Vortag sicher noch nicht dort gestanden hatte. Ich schlich näher, während die anderen von Otto Fröhliche sangen. Der Vorhang reichte nicht ganz bis zum Boden und als ich genau hinsah, ganz genau, erkannte ich darunter Gummireifen und Speichen aus glänzendem Chrom. Ich hatte es ja gewusst, auf das Christkind war Verlass.
© OlgaFlora 2021-12-18