Der rote Schal

Veronika Schaber

by Veronika Schaber

Story

Da steht sie da. Die rote Nase vergraben im dicken roten Winterschal. Den hatte sie sich noch schnell in der FrĂĽh umgeschlungen – bevor sie, wie jeden Morgen aus der TĂĽr zum Zug gestĂĽrmt war. Mit ihrem Koffer, der zweiten Tasche und dem Regenschirm, wie immer. Und wie immer gelang es ihr, alles auf einmal zu tragen. Sie wunderte sich oft darĂĽber, dass ihr noch nie etwas hinuntergefallen war. Sie ging so schnell sie konnte – sie war zu spät dran wie jeden Tag. Und jeden Tag nahm sie sich vor, dass sie diesmal pĂĽnktlich aus der TĂĽr ging – aber es klappte nie.

Jetzt stand sie abends, nach einem langen Tag in der Dunkelheit und wartete auf den verspäteten Zug. Eine heftige Sturmböe riss das Ende des achtlos um den Hals geschlungenen Tuchs mit sich und ließ es wie eine Fahne wehen. Sie verkroch sich in die restlichen Windungen des Schals. Ein Duft stieg ihr in die Nase – ein Hauch von dem Parfum von ihrer Mutter. Wohlige Wärme durchfloss das Mädchen, als sie an diese dachte. Ein Bild von einer warmen Umarmung tauchte in ihrem Kopf auf. Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln.

Erneut versuchte der Wind ihr die Wärme des Tuchs zu entreißen – immer stärker zog er an dem wehenden Ende. Immer heftiger verschlang er das zitternde Mädchen. Seufzend griff sie nach dem Ende und wickelte es sich wieder um den Hals. Für einen kurzen Augenblick schien es so, als hätte der Sturm aufgegeben. Zufrieden steckte sie ihre vor Kälte tauben Finger zurück in die Taschen des Mantels und vergrub die Nase im Schal und versank im Stoff.

Sie fragte nie, ob sie den Schal ausleihen könnte – dazu war nie genügend Zeit. Doch jetzt dachte sie wieder daran. Sie fühlte einen Hauch von Schuld – vielleicht hätte Mama den Schal heute gebraucht? Vielleicht hätte sie den späteren Zug nehmen sollen… vielleicht wäre dann noch Zeit gewesen, zu fragen. Aber dann wäre sie zu spät zur Schule gekommen. Also war sie aus dem Haus gestürmt, ohne zu fragen. Wie jeden Tag. Vielleicht mache ich es morgen besser. Vielleicht frage ich sie morgen.

Eine Wehe aus Schnee unterbrach ihre Gedanken – sie hatte gar nicht bemerkt, dass der Wind bereits die Hälfte des Schals erobert hatte. Sie drehte ihren Kopf und sah dem flatternden Ende zu. Sie sah zu, wie der Wind sich mit seinem roten Spielzeug vergnügte. Sah zu, wie sich eine dünne Schicht aus Schneeflocken in dem Tuch verfing. Das Tuch war inzwischen zu einer eisig glitzernden Fahne geworden.

Das Mädchen richtete ihren Blick in die Ferne. Der Wind blies ihr nun direkt ins Gesicht und sie kniff die Augen zusammen. Waren das da in der Ferne schon die Lichter des Zugs? Nein – es war nur ein einsames Auto. Wie jeden Winter hatte der Zug Verspätung, wenn es stĂĽrmte. Sie aber dachte an ihr warmes Zuhause, den eingeheizten Ofen, den Duft von Mamas Essen. Sie versank erneut in ihren Gedanken an die Wärme und als der Wind ihr den Schal zur Gänze entriss, sah sie dem glitzernden Band lächelnd nach, mit dem Leuchten von Wärme in ihren Augen.

© Veronika Schaber 2020-03-23

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