Im Brief, aufgegeben in Bergamo, anno salutis MCMLXXVIII, hast du dich als secchione geoutet. Ja, du warst ein Streber. Gestochene Handschrift, schwarze Tinte auf unliniertem Papier. Einwandfreie Orthografie, tadellose Interpunktion. Wen wundert’s. Mit Auszeichnung maturiert am Humanistischen Gymnasium in Linz. Firm in Altgriechisch und Latein. An der Uni Wien hast du dann die Fächer Slawistik und Anglistik inskribiert.
Wir lernten uns in der Bibliothek im NIG* kennen. Beide stuckten wir damals altenglische Grammatik. Du warst gerade von einem Auslandsjahr in Moskau zurückgekommen und suchtest Anschluss. Ich war aufgeschlossen.
Doch, ich mochte dich, irgendwie. Aber du musst etwas missverstanden haben. Wir gingen zusammen in die Mensa, hin und wieder ins Burgkino. Wir riefen einander fast täglich an, um „die Etymologie des Tages“ durchzugeben.
Meine Mutter hätte dich gern als Schwiegersohn gesehen. Sie war dir ein paar Mal auf dem Bahnhof begegnet, weil wir die Zugfahrt von Wien nach Linz oft gemeinsam antraten. Auch meinen Studienkolleginnen war nicht verborgen geblieben, dass du mir nachschwänzelst. Du, der emsige Student mit dem pfeilgeraden Seitenscheitel und dem gestärkten Hemdkragen.
Eines Abends bist du mit einer Orchidee und einer Flasche Rotwein in unserer Zweier-WG aufgekreuzt. Bei der Verabschiedung hast du mich gefragt, ob ich den Sommer mit dir in England verbringen will. Du hättest dich als House Sitter beworben. Wir könnten über das Cottage frei verfügen und schöne Ausflüge machen.
Dann versuchtest du mich zu küssen.
Du warst Brillenträger und hattest ein prominentes Kinn, das du durch eine überspitzte Kopfhaltung noch stärker zum Ausdruck brachtest. Mit diesem Kinn bist du unsanft mitten in mein Gesicht gekracht.
Deine Sponsion war im Mai 1979, ein gutes Jahr vor der meinen. Ich hatte im Herbst 1980 eine Einzelsponsion. Ich war im 8. Monat schwanger. Als ich dir sagte, dass ich ein Baby erwarte, kam ein langer Brief aus Linz. Du warst gerade mitten im Probejahr. Als ledige Mutter würde ich schwer eine Anstellung an einer Schule finden, schriebst du, weil ich den Kindern nicht als Vorbild dienen würde, in moralischer Hinsicht. Du hast diesem Schreiben eine Seite aus einer Frauenzeitschrift beigelegt. In dem Artikel ging’s um Abtreibung.
Aber du (O-Ton) „traktiertest mich weiterhin mit Streiflichtern deiner Existenz“. Im Sommer 1980 trudelte die Bekanntgabe deiner Vermählung ein. Du freust dich schon, schriebst du, auf die Annehmlichkeiten des Ehestandes. Zwei Jahre später hast du mich über die Ankunft eurer Tochter informiert. Im Juni 1983 fand deine Promotion statt, sub auspiciis, wie zu erwarten war. Complimenti, dottore!
Ich habe der Feier nicht beigewohnt. Ich ging mit meinem Sohn zu einer Lego-Ausstellung.
© Sonja M. Winkler 2022-01-27