by Lena Haider
„Ich will eine andere sein“, sagst du. Doch ich bin es die das sagt.
Meine Ich-Werdung dauert bereits 34 Jahre. Oft bin und war ich dabei eine Andere, obwohl ich stets ich geblieben bin. Es war an einem warmen Frühlingsmorgen als ich schließlich mir selbst begegnet bin. Die Frühlingssonne blinzelte durch die blassrosa Blüten der Magnolie, Vögel zwitscherten in den Sträuchern und der Duft von Narzissen lag in der Luft. Das war’s dann aber auch schon mit der Magie. Die Begegnung mit meinem Ich jedoch hatte im Grunde wenig Erhabenes, so gar nichts Entrücktes. Ich stand also vor mir selbst und sagte in sachlichem Tonfall zu mir: „Ah, das bin ja Ich.“ Wir nickten uns zu, es war alles gesagt.
Nicht, dass ich vor jenem Tag nicht auch Ich selbst gewesen wäre. Ich kam ja schließlich schon als Ich auf die Welt. Doch spürte es sich in diesem Moment erstmals so an, als hätte ich mich in mir selbst eingependelt. Als würden mit einmal Mal alle Schablonen meines Selbst übereinander passen. Ich bezweifle ja, dass man jemals vollständig in sich selbst ankommt. An diesem einen Tag gelang ich aber schon sehr nahe an das eigene Ich heran.
„Werde, die du bist“, übersetzte Nietzsche einst den griechischen Dichter Pindar. Ich bin immer ich, in jedem Augenblick, in jeder noch so kleinsten Einheit meines Seins. Manchmal bin ich es nur eben ein bisschen mehr als sonst. Dann sind meine Schritte leichtfüßig und frei, so dass ich sogar ein bisschen abfedere in die Schwerelosigkeit, sobald meine Füße den Boden berühren. Die Leichtigkeit lässt mich schweben.
Zugleich rauben mir meine dunklen Augenblicke fast die Luft. Eine schwarze, ölige Flüssigkeit umschlingt dann meine Beine, dringt bis in meinen Kopf und mein Herz. Wie Kormorane, die gefangen im Ölteppich eines havarierten Frachters verenden, ringe ich nach Luft. Die Schwärze klebt an meinen Flügeln, lähmt mich, erstickt mich fast. Wie meine ganze Ich-Werdung hat es eine Zeit gedauert, bis ich mir eingestehen konnte, ja, auch das bin ich. Das Leichte wie das Schwere, das Dunkle wie das Helle gehören nahtlos zu meinem Selbst dazu.
Das Schwarz verfärbt sich zunächst in ein Grau, verläuft schließlich in eine Helligkeit, die in allen Farben erstrahlt. Es entsteht wieder ein freier Raum in mir und um mich herum. Diese Leere will ich sogleich füllen mit Wörtern und Emotionen. Sätze die mich irgendwohin treiben. Aufs offene Meer hinaus. Mein Bauch, mein Kopf, jedes Molekül in meinem Körper sprudelt vor Energie. Ich begrüße zögerlich mein Ich, weil ich nicht weiß, wie lange es diesmal bei mir bleibt. „Bleib’ doch noch ein bisserl“, flüstere ich mir selbst ins Ohr. Und ich bleib noch ein bisserl.
© Lena Haider 2021-04-28