Dort an der knorrigen großen Eiche lehnte ein alter Mann. Gezeichnet vom Leben. Einsam. Seine schwere Last ist, dass er sich nur von den Träumen anderer ernähren kann.
Noch nie ist er auf die Idee gekommen, sich eigene Träume auszudenken und von ihnen satt zu werden. Doch das macht ihn auch furchtbar einsam, denn wer mag schon jemanden, der die eigenen Träume stiehlt.
Anstatt etwas aus den gestohlenen Träumen zu machen, beneidet er die anderen Menschen um ihre Vorstellungskraft und ihre Fantasie. Er fragt sich, wie sie so positiv sein können in dieser für ihn doch so grauen und schmerzhaften Welt.
Aber er ist auch fasziniert, vor allem von den Träumen der Kinder, die so rein und unschuldig sind. Denn schon als Kind war er zerfressen vor Neid. Manchmal betrachtet er sich selbst als Traumfänger, als Traumdieb, als Abschaum. Niemand hat ihm jemals die wahre Bedeutung eines Traumfängers erklärt.
Traumfänger sind dazu da, die schlechten Träume abzuwehren und nur die Guten einziehen zu lassen. Er könnte auch etwas Gutes vollbringen, indem er Albträume in sich aufnimmt und sich von ihnen ernährt. So hätten die Menschen nur noch schöne Träume.
Doch auch dies kam ihm niemals in den Sinn. Und der Neid zeichnete ihn. Tiefe Falten durchlaufen nun sein Gesicht.
Einmal mehr muss er sich an der alten Eiche abstützen, die sein einziger Weggefährte ist. Manchmal denkt er sich, dass die Eiche ja auch nicht vor ihm weglaufen kann, sonst hätte sie es bestimmt schon längst getan. Die Eiche spürt seine negativen Gedanken und lässt ihre Blätter auf ihn niederfallen, um ihn zu trösten.
Der alte Mann nimmt es jedoch nicht als Zeichen der Zuneigung wahr, sondern schämt sich, weil die Eiche seinetwegen ihre Blätter verliert. Sein Frust und Neid, seine Schlechtigkeit lassen die Eiche vor Enttäuschung absterben.
Während er in seinen Gedanken verloren ist, erregt er die Aufmerksamkeit eines kleinen Jungen. Er kann nicht älter als sieben Jahre alt sein.
© Julia Steinbach 2022-08-22