Ich öffne die Fensterflügel und lehne mich weit hinaus. Ein zartes Frühlingslüftchen weht mir um die Nase. Der Winter will sich gerade verabschieden. Im Garten sehe ich Lena, das Nachbarsmädchen, mit meinen Jungs, Philipp und Oliver, um einen Haufen trockenen Geästes stehen. Sie sind gerade dabei, auf unserem überschaubaren Grundstück Material für ein Osterfeuer zusammenzukratzen. Doch jetzt scheinen sie zu streiten. Gummibestiefelt und mit Gartenrechen „bewaffnet“ gestikulieren sie alle drei wild um sich. “Siehst du, es gibt es nicht! Das ist der Beweis!” Lena fuchtelt mit einem Papierfetzen in Richtung Philipp und Oliver. “Es wird ihn halt im Flug verloren haben”, entgegnet Philipp. Eine heftige Diskussion entbrennt. Ich haste in den Garten und frage, was los ist. “Da, das haben wir im hohen Gras gefunden!” Lena, mit 7 Jahren die älteste in der Rasselbande, streckt mir einen Zettel entgegen und erwartet offensichtlich eine Erklärung von mir.
Ich betrachte das Papier und muss schmunzeln. Meine Gedanken driften ab. Es ist Mitte Dezember und eine dicke, weiße Schneedecke hat unseren Garten in ein bezauberndes Winterwunderland verwandelt. Dicke Schneeflocken tänzeln vom Himmel. Ein lustiger Schneemann mit Karottennase und Zipfelmütze steht im Garten und lächelt zum Küchenfenster herein. Philipp und Oliver hocken am Esstisch. Philipp hat seine Zunge zwischen den Lippen eingeklemmt und schreibt angestrengt und konzentriert etwas auf ein Stück Papier. Als er fertig ist, schiebt er es seinem Bruder in die Hände. Oliver, der noch nicht schreiben kann, nimmt seine Malstifte und beginnt zu kritzeln. Ab und zu hebe ich den Blick von meinem Buch und schaue zu den Buben. Ich erkenne ein Ungeheuer mit langen Reißzähnen. Später erfahre ich, dass es ein Meerschweinchen ist.
Fertig! Feierlich platzieren wir den Brief an das Christkind draußen am Küchenfensterbrett. Inzwischen ist mein Mann Klaus von der Arbeit zurückgekehrt. Nach dem gemeinsamen Abendessen bringt er, nicht ohne Weihnachtsgeschichte, die Jungs ins Bett. Ich taste das komplette Fensterbrett ab. Doch da liegt nichts. Verflixt! Der Wind muss den Wunschzettel an das Christkind weggeblasen haben. Da ich nicht weiß, was auf dem Zettel steht, bleibt Klaus und mir nichts anderes übrig, als das komplette Areal unter besagtem Küchenfenster abzusuchen. Es ist klirrend kalt. Ein mittelprächtiger Schneesturm rauscht uns um die Ohren. Die Finger sind eisig. Zwei erwachsene Menschen mit Stirnlampen rechen des Nachts im Schneegestöber einen Garten. Doch der verflixte Wunschzettel bleibt verschollen.
Am nächsten Morgen wird von den Jungs hoffnungsvoll das Küchenfenster gestürmt. Zuverlässig, wie alle Jahre zuvor, hat das Christkind den Wunschzettel abgeholt und ist damit davon geflogen. Gelocktes, weißes Engelshaar, wohl beim Abflug verloren, und ein langer, durchsichtiger Eiszapfen aus Zucker, mit einer klebrigen Flüssigkeit gefüllt, liegen außen auf der Fensterbank. Sowie schon vor mehr als 45 Jahren auf der Fensterbank meines Elternhauses. Strahlende Kinderaugen am Weihnachtsabend. Aus einer Intuition heraus hat das Christkind das Richtige beschert.
© LisaGlücklich_amWeg 2020-12-26