Der Vögel Lied

Anna-Lea Bentke

by Anna-Lea Bentke

Story

Die Glasscherben auf dem Gehweg glänzen in der Sonne. Sie wurden an den Kanten abgeschliffen, damit Sie gefahrlos die Wege durch den Park markieren können. Für Oktober ist es überraschend warm, aber ich höre kaum Vögel in den Baumwipfeln zwitschern. Das macht mich traurig.

Mit meinem Opa habe ich immer auf einer Parkbank gesessen und gelauscht, welche Vögel wir aus dem Gesang des Frühlings heraushören konnten. Manchmal hat er mich danach auf ein Eis eingeladen, ein großes mit vier Kugeln, Sahne und Erdbeersoße. Von der Sahne bekam ich einen Oberlippenbart, der fast so schön war wie Opas. Sein Lachen war laut, kräftig und melodisch wie Paukenschläge, doch wenn er pfiff, war er den Vögeln gleich. Seine laute Seele, die einen mit der Wucht einer Flutwelle überwältigen konnte, wurde dann ganz ruhig. Jedes Mal stimmten die Vögel in sein Lied mit ein. Jedes Mal erhob sich ein anderes Lied von seinen Lippen und hallte von den Vögeln wider. So wie die Vögel durch die Baumkronen hüpften, bewegte sich auch sein Lied. Ich habe mir oft gewünscht, genau so schön pfeifen zu können. Aber die einzigen die das konnten waren die Vögel.

Ich trete auf die Lichtung, die vor Glasscherben glänzt. An den Bäumen tanzen Lichtreflexe, bewegen sich wie die Blätter im Wind.

Seit Opas Beerdigung letztes Jahr war ich nicht mehr hier. Obwohl dieser Ort mich schmerzhaft an ihn erinnert, hat mich doch die Sehnsucht gepackt. Ich wollte mich auf die grüne Parkbank setzen und meine Beine ausstrecken, wie Opa es immer getan hatte. Mein Herz klopft schnell, als ich mich setze und bemerke, wie unbequem die Bank ist. Opa hatte immer wohlig geseufzt und sich gerekelt, da war mir das nie aufgefallen.

Ich bin nicht ganz sicher, was ich tun soll. Bin ich wirklich nur gekommen, um diesen Ort zu sehen? Ich fühle mich so dumm. Auch wenn ich das Gefühl habe, er könnte jeden Moment zwischen den Bäumen hindurchtreten, für einen Nachmittag mit mir, den Vögeln und Eis, ist er natürlich nicht hier. Die Erkenntnis dieser Wahrheit trifft mich wie ein Schlag ins Gesicht. Ich sehne mich zurück, sehne mich danach, wieder bei ihm zu sein. Noch ein letztes seiner Lieder zu hören. Ich fange an zu weinen, schluchze und schluchze, bis ich schließlich heule wie ein Baby.

Als ich jung war, wollte ich immer so werden wie er, aber das bin ich nicht, keiner wird das je sein. Keiner wird je so mit den Vögeln singen können wie er, keiner seine Rolle einnehmen. Ich bin zwar hier, aber ich bin allein.

“Wo bist du?”, flüstere ich hilflos.

Da höre ich etwas, das mich innehalten lässt. Es ist der hässliche Ruf einer Krähe. Doch sie klingt nicht spottend. Eher, als wollte sie, dass ich lausche. Das tue ich. Ich spitze die Ohren, als hinge mein Leben davon ab, traue mich nicht mal zu atmen, dann höre ich den Gesang der Vögel.

Wieder steigen mir Tränen in die Augen. Glitzernd wie die Glasscherben, laufen sie meine Wangen hinab. Auf einmal bin ich nicht mehr allein und ich weiß, er ist doch hier.

© Anna-Lea Bentke 2022-04-25

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