Sehen und gesehen werden, eines schließt das andere nicht aus. Doch welche Äußerlichkeiten nimmt unser Auge wahr und welche verborgenen Botschaften oder Sehnsüchte können wir im verschleierten Ozean der Nebelschwaden entdecken?
Eine zwiespältige Thematik, die Caspar David Friedrich in seinen Gemälden mit federleichtem Pinselstrich und nuancierter Farbpalette auf die Leinwand der Ewigkeit bannt. Wir aktivieren unseren Sehsinn, der nur die äußere Landschaft wahrnimmt, deren Facetten der Künstler souverän im Stil der deutschen Romantik einfängt. Aber Friedrich spart das Innenleben, die Seelenlandschaft, das, was uns Menschen ausmacht, als Subtext seiner Werke nicht aus.
Verzaubert betrachte ich sein wohl berühmtestes Gemälde, auf dem der einsame Wanderer ins von schroffen Gebirgsmassiven umschlossene, nebelverhangene Tal hinunterblickt. Wir sehen durch die Augen einer imaginären Figur, die das Zentrum der Komposition beherrscht und deren Antlitz uns verborgen bleibt. Unser Blick prallt an schroffen Felsformationen ab, die wie unheimliche Monster aus der Nebelsuppe herausragen. Die ehrfürchtige Stille scheint greifbar zu sein. Der Protagonist würdigt uns keines Blickes, da wir lediglich seine Kehrseite wahrnehmen. Es hat den Anschein, dass der bewegungslose Unbekannte in der Betrachtung der Natur versinkt, so wie wir uns in der stimmungsvollen Unschärfe des pastellfarbenen Farbenspiels verlieren.
Unbegreiflich, dass einer der bemerkenswertesten deutschen Maler des 19. Jahrhunderts zu Lebzeiten ein unbekanntes Dasein fristete, dass Friedrichs vielschichtiges, naturverbundenes Werk erst im 20. Jahrhundert gewürdigt wird. Das Sujet der Rückenfigur, die quasi zu seinem Markenzeichen avancierte, verleiht seinen Werken eine profunde Tiefe, zieht den Betrachter förmlich in die gemalte Szene hinein. Diese spezielle Form der Maltechnik hat ihren Ursprung in der römischen Kunst, fand zur Zeit Giottos ihre Vollendung und hat den Zweck, auf einer zweidimensionalen Fläche die Imagination eines dreidimensionalen Raumes zu erschaffen.
Begegnet bin ich Friedrichs mysteriösem Wanderer zum ersten Mal in der Approaching Literatures in English-Vorlesung in Verbindung mit William Wordsworth’ inspirierendem Gedicht “The Daffodils”: I wandered lonely as a cloud, That floats on high o’er vales and hills, When all at once I saw a crowd, A host of golden daffodils. Beside the lake, beneath, the trees, Fluttering and dancing in the breeze.
Der englische Poet ist eine Schlüsselfigur der romantischen Dichtung. Als dessen Vertreter ist er überzeugt davon, dass die Poesie aus Gefühlen entspringt, die in der Ruhe gesammelt werden. Woodsworth betrachtet die Natur als idealen Raum dafür, als locus amoenus, was mit Idylle übersetzt werden kann. Der Kreis schließt sich und wir finden uns wieder bei Friedrichs Meisterwerk der Introspektion, wobei unserer Fantasie keinerlei Grenzen gesetzt werden und es uns frei steht, des Künstlers Werk zu interpretieren.
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© Silvia Peiker 2024-11-03