Eines Tages, ich saß gerade im Zug, sah ich aus den Augenwinkeln eine Bergspitze, die mir zuvor noch nicht aufgefallen war. Schon mein ganzes Leben war ich immer von Bergen umringt gewesen und hatte oft hinauf zu den schneeweißen Gipfeln geschaut. Natürlich kannte ich nicht alle beim Namen, trotz aller Bemühungen meines Vaters, aber ich war mir sicher gewesen, zumindest alle wiederzuerkennen! Hatte ich diesen bisher einfach übersehen? Konnte das sein? Es musste so sein, denn was war die Alternative? Das über Nacht ein Felsmassiv einfach so still und heimlich aus dem Boden gewachsen war? Wohl kaum, oder… ?
Meine Gedanken begannen zu wandern, zu Gebirgen und woher sie kamen. Das hatte ich ja gelernt, in der Schule und der Uni. Die waren ja nicht schon immer da gewesen. Irgendwann hatten sich all diese Berge tatsächlich erhoben, waren gewachsen und gewachsen, bis sie irgendwann eben dagestanden waren, so wie sie heute noch dastehen. Manche, hatte ich mal gehört, wuchsen noch immer. Aber natürlich nicht so schnell, dass man es tatsächlich merken würde.
Ob man früher geglaubt hatte, dass die Berge schon immer da gewesen waren? Den kurzen Blick, den ein Mensch in seinem Leben auf die Veränderungen dieser Welt erhaschen kann, gleicht wohl der Momentaufnahme einer Kamera. Alles steht still. Eine angenehme Konstante, eine Markierung, an der man sich orientieren kann. Jetzt und für immer.
Da kam mir eine alte Sage in den Sinn. Irgendwas mit dem Teufel und einem großen Stein. Es war die Entstehungsgeschichte eines kleinen Berges, dessen Namen ich vergessen hatte. Natürlich war diese Geschichte nichts Besonderes, es gab vermutlich noch ein Dutzend identer Entstehungsmythen. Nicht das ich daran glaubte, aber ich schloss daraus, dass sich irgendwer vor langer Zeit gedacht haben musste: „Wo kommt dieser Berg eigentlich her?“
Während ich meine Gedanken so kreisen ließ, verschwand der Berg langsam aus meinem Sichtfeld. Wenn ich das nächste Mal hier vorbeikomme, wird der Berg noch hier sein? Vermutlich ja. Ich könnte einfach auf einer Landkarte nachsehen, was für ein Berg das war. Das würde natürlich voraussetzen, dass mich dieser eine Berg noch lange genug beschäftigen würde. Was unwahrscheinlich war.
Der Zug erreichte die Endstation und mit der Fahrt endeten auch meine Überlegungen. Ob das eine gute Geschichte wäre? Ganz im Stil der alten Sagen, vielleicht mit dem Titel „Die Legende vom wandernden Berg“? Darin würde dann nach wolkigen oder nebeligen Tagen plötzlich eine Bergspitze zwischen den anderen Bergen auftauchen und die Leute würden sich fragen, ob diese schon immer da gewesen war. Aber bevor jemand hinaufsteigen kann, verschwindet der Berg wieder auf wundersame Art und Weise.
Keine sonderlich spannende Geschichte. Aber der Gedanke, dass etwas so Großes eines Tages einfach auftauchen könnte, vollkommen unbemerkt und jeder einfach weiterleben würde wie bisher, lies mich nicht ganz los.
© Julia Holzapfel 2021-05-20